Berlin. Ex-Parteichef Gabriel regt eine Debatte über den Kurs der SPD an. Die Partei müsse sich auf die traditionellen Wähler konzentrieren.

Sie werden ihre Terminkalender mitbringen und eine Erledigungsliste schreiben: Vier Tage vor Weihnachten treffen sich die Spitzen von Union und SPD an diesem Mittwoch, um den genauen Fahrplan und die Themen für die Sondierungsgespräche im Januar festzulegen. In etlichen Fragen sind die Fronten verhärtet – etwa bei der Flüchtlingspolitik oder der Bürgerversicherung. Doch vor allem die Sozialdemokraten ringen gleichzeitig auch mit sich selbst – und der Frage, wie sie als Volkspartei überleben können.

Für Ex-Parteichef Sigmar Gabriel steht fest, was zu tun ist: Der geschäftsführende Außenminister ist selbst nicht im Sondierungsteam seiner Partei, hat aber klare Vorstellungen davon, wie die SPD zu retten wäre. In einem Gastbeitrag für den „Spiegel“ mahnt Gabriel die Genossen, sich wieder stärker auf traditionelle Wähler zu konzentrieren.

Mindestlohn war wichtiger als die Ehe für alle

„Umwelt- und Klimaschutz waren uns manchmal wichtiger als der Erhalt unserer Industriearbeitsplätze, Datenschutz war wichtiger als innere Sicherheit“, schreibt Gabriel. Mit Blick auf die Herausforderungen durch den Rechtspopulismus fordert er zudem eine offene Debatte über Begriffe wie Heimat und Leitkultur.

„Ist die Sehnsucht nach einer Leitkultur angesichts einer weitaus vielfältigeren Zusammensetzung unserer Gesellschaft wirklich nur ein konservatives Propagandainstrument“, fragt Gabriel, „oder verbirgt sich dahinter auch in unserer Wählerschaft der Wunsch nach Orientierung in einer scheinbar immer unverbindlicheren Welt der Postmoderne?“

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    Gabriel wirft seiner Partei zudem Fehler im Wahlkampf vor: „Die Ehe für alle haben wir in Deutschland fast zum größten sozialdemokratischen Erfolg der letzten Legislaturperiode gemacht und nicht genau so emphatisch die auch von uns durchgesetzten Mindestlöhne, Rentenerhöhungen oder die Sicherung Tausender fair bezahlter Arbeitsplätze bei einer der großen Einzelhandelsketten.“

    Die SPD müsse sich wieder stärker um jene Teile der Gesellschaft kümmern, die mit dem Schlachtruf der Postmoderne „Anything goes“ nicht einverstanden seien. „Die sich unwohl, oft nicht mehr heimisch und manchmal auch gefährdet sehen.“

    SPD-Fraktionschefin Andrea Nahles äußerte am Sonntag Zweifel am Zustandekommen einer neuen großen Koalition. Zwar dürfe die SPD keine Angst vor dem Regieren haben, sagte sie dieser Redaktion. „Aber wir alle sind uns bewusst, dass die SPD in einer sehr ernsten Lage ist. Ein Weiter-so kann es nicht geben.“ Deshalb laufe auch niemand in der SPD-Führung mit wehenden Fahnen in die nächste große Koalition. Es handele sich um eine „Sondersituation“.

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      Neuwahlen würden Gefühl von Instabilität stärken

      Nahles bekräftigte: „Ich bin mir nicht sicher, wo wir landen. Es geht auch um die Frage des Zutrauens in die Union.“ Die SPD stehe „zwischen Baum und Borke“. Die SPD trage Verantwortung dafür, wie es in Deutschland weitergehe, fügte die Fraktionsvorsitzende hinzu. „Darum muss man jetzt Risiken und Chancen in Ruhe abwägen.“ Neuwahlen seien die schlechteste Option. „Das würde das Gefühl von Instabilität am stärksten hervorrufen.“

      Unterdessen hat bereits der erste SPD-Landesverband sein Nein zu einer großen Koalition erklärt: Ein Parteitag der Thüringer SPD billigte am Sonnabend mehrheitlich einen Antrag der SPD-Nachwuchsorganisation Jusos, mit dem die Neuauflage einer großen Koalition im Bund abgelehnt wird.

      Heimat als Ort sozialer Geborgenheit

      Auch in großen Verbänden wie Nordrhein-Westfalen gibt es massive Vorbehalte gegen eine Neuauflage der Groko. Der Landesvorsitzende der NRW-SPD, Michael Groschek, forderte daher Vorabzusagen von der Union. „Wir ziehen keine roten Linien, aber ohne konkrete Verbesserungen im Bereich der Arbeitsmarkt-, Renten- und Gesundheitspolitik ist es unvorstellbar, dass ein Parteitag grünes Licht für weitere Gespräche gibt.“ Doch Kompromisse sind noch nicht in Sicht: Die Pläne der SPD für eine Bürgerversicherung etwa stoßen in der Union weiterhin auf Ablehnung.

      SPD bereit zu Sondierungen

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        Groschek begrüßte Gabriels Forderung nach einer Rückbesinnung auf traditionelle Wählerschichten. Der „Bild am Sonntag“ sagte er: „Wir dürfen den Begriff Heimat nicht den Rechten überlassen.“ Die SPD müsse Heimat zu einem Ort von sozialer Geborgenheit und Sicherheit machen.

        Union verlangt Einlenken der SPD beim Familiennachzug

        Im Streit um die Flüchtlingspolitik mahnten Unionspolitiker am Wochenende ein Entgegenkommen von der SPD an: Die Union will die Aussetzung des Familiennachzugs über den März hinaus verlängern, die SPD ist dagegen. Der wiedergewählte CSU-Chef Horst Seehofer sagte, seine Partei werde in den Koalitionsverhandlungen nichts mittragen, was ihr bei der bayerischen Landtagswahl 2018 schaden könne. Seehofer führt seine Partei in die Koalitionsgespräche.