Saarbrücken. Lehrer einer Gemeinschaftsschule in Saarbrücken schildern in einem Brandbrief drastische Missstände. Das erinnert an die Rütli-Schule.

Gut zehn Jahre nach dem Brandbrief der Berliner Rütli-Schule gibt es einen ähnlichen Hilferuf einer Schule – und wieder eine Debatte: Das Kollegium einer Saarbrücker Gemeinschaftsschule hat in der Post an die schwarz-rote Landesregierung Alarm geschlagen wegen Zuständen an der Schule mit einem Anteil von 86 Prozent Schülern nichtdeutscher Herkunft. Die „Saarbrücker Zeitung“ hat den Brief öffentlich gemacht.

Welche Missstände die Lehrer anprangern: Es geht um Aggressionen und Gewaltbereitschaft an der Gemeinschaftsschule Bruchwiese, aber auch um Respektlosigkeit mit einer großen Portion Sexismus und Frauenverachtung: Lehrerinnen und Lehrer würden als „Cracknutte“ oder „Hurensohn“ bezeichnet, Vorhaltungen gekontert mit Sprüchen wie „Ich rede mit Ihnen, wie ich mit Frauen rede.“ Viele Lehrer hätten Angst, manche Schüler zu unterrichten. In dem Brief ist auch von mehreren Zwischenfällen an der Schule mit Messer und einem mit Pfefferspray die Rede.

Was die Lehrer fordern: Sie wenden sich in dem Brief nicht gegen die Schüler, wollen aber Hilfe für die Gemeinschaftsschulen. Wer Inklusion „radikal“ umsetze, müsse auch die „notwendigen Voraussetzungen in personeller, materieller, sächlicher und räumlicher Hinsicht“ schaffen, „sonst sind wir Lehrer/innen zunehmend belastet“, heißt es im Brandbrief. Bedeutet: Mehr Lehrer, mehr Sozialarbeiter, mehr Mittel.

Passend dazu hat der Saarländische Lehrerinnen- und Lehrerverband Anfang Dezember ein Musterformular für eine Überlastungsanzeige ins Netz gestellt. Lehrer sollen deutlich machen, dass „die massive Überlastung (...) die ordnungsgemäße Erfüllung meiner Aufgaben aus sachlichem Grund nicht mehr gewährleistet und Fehler sowie erhebliche gesundheitliche Beeinträchtigungen für meine Person daraus resultieren könnten.“

Welche Reaktionen aus dem Bildungssektor kommen: Der Lehrer-Verband an der Saar unterstreicht den Brandbrief – und erklärt auch, die Gemeinschaftsschule Bruchwiese sei kein Einzelfall: „Fast täglich erreichen uns mittlerweile die Hilferufe aus den Gemeinschaftsschulen, die sich den Anforderungen im Schulalltag nicht mehr gewachsen sehen. Immer häufiger kämen Beschwerden auch aus den ländlicheren Regionen.“ Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert, dass Mittel stärker unter dem Gesichtspunkt von Brennpunkten zugewiesen werden, wie das die SPD versprochen habe.

Wie die Politik reagiert: Im Saarland schlug der Brief sofort hohe Wellen, nachdem er jetzt bekannt geworden ist – obwohl er bereits aus dem Juni stammt. Die Opposition aus Linken und AfD kritisiert die Landesregierung heftig. Die AfD im Saarland geht so weit, den „Stopp von Migration und Inklusion“ zu fordern.

Das Schreiben ging an Ministerpräsidentin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) und Bildungsminister Ulrich Commerçon (SPD). Commerçon erklärte, man habe den Brief „von Anfang an ernst genommen“, sein Ministerium spricht von „mehreren Maßnahmen“, die bereits ergriffen worden seien: 109 zusätzliche Lehrerwochenstunden und weitere 60 Stunden zur Sprachförderung. Die CDU will im Januar die Schule besuchen.

Plötzlich sind sich auch alleine einig, dass Inklusion und ein hoher Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund mehr Mittel erfordern. Der bildungspolitische Sprecher der CDU, Frank Wagner: „Inklusion kann nur gemeinsam gelingen. Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass die Schulen mit ausreichenden räumlichen, personellen und sachlichen Mitteln ausgestattet sind.“

Im nächsten Jahr sollen Schulen an belasteten Standorten 446.000 Euro mehr bekommen – Stand bisher. Eine Expertenkommission soll laut SPD helfen, dass Gemeinschaftsschulen gegenüber Gymnasien aufholen, außerdem soll der Aufbau „multiprofessioneller Teams unter Einbindung unter anderem von Sozialarbeitern“ vorangetrieben werden. Das Saarland mit nur knapp einer Million Einwohner hat Schulden von 14,3 Milliarden Euro, erzielt auch als eines von wenigen Bundesländern keine „schwarze Null“ oder Überschüsse.

Das hat der Fall mit der Rütli-Schule zu tun: SPD-Bildungspolitiker Jürgen Renner warnt in einer Mitteilung : „Wir sollten einzelne Schulen nicht mit einem Etikett (‚Rütli-Schule’) versehen, dies wird der Arbeit der Lehrkräfte und auch dem Ruf der Schule nicht gerecht.“ Die Assoziation drängt sich bei dem Brandbrief aber sehr auf – und die Lehrer stehen zumindest bislang auch nicht in der Kritik. Anders war an der Rütli-Oberschule im Berliner Problembezirk Neukölln, dass die Schulleitung den Missstand unterstrich. Die damals langzeiterkrankte Rektorin beklagte „ein Schulsystem aus dem Kaiserreich“. Die Schulleitung in Saarbrücken relativiert dagegen gegenüber dem „Saarländischen Rundfunk“ etwas: Es seien „nur Spitzen“, die die Lehrer im Brief beschrieben.

Die Rütli-Schule hat in jedem Fall sehr davon profitiert, dass die Zustände durch den aufrüttelnden Brief 2006 und die Debatte öffentlich wurden. Nachdem die Lehrer von Attacken auf sie und Chaos im Unterricht berichtet hatten, kümmerte sich die Politik, pumpte Millionen in den „Rütli-Campus“, wie die Einrichtung heute nach einer Fusion mit zwei anderen Schulen heißt. Sie gilt heute als Leuchtturmschule, die den Kindern und Jugendlichen echte Chancen bietet. An anderen Schulen gibt es jedoch weiter großen Reformbedarf – alleine die Sanierungsmaßnahmen bis 2020 sollen 1,64 Milliarden Euro verschlingen.