Schulz darf als SPD-Chef auf Probe bei der Union vorfühlen
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Von Philipp Neumann
Berlin. Martin Schulz macht einen Schritt Richtung große Koalition. Doch das Herz der Sozialdemokraten erobert Fraktionschefin Andrea Nahles.
Fast zwei Stunden dauert die Aussprache schon, da zeigt Andrea Nahles dem Parteitag, was eine leidenschaftliche Rede ist. Die Stimme der SPD-Fraktionschefin überschlägt sich, sie bringt nicht alle Sätze zu Ende. Aber die Sozialdemokraten klatschen und freuen sich, dass sich da endlich mal einer aus der Parteispitze über das Rednerpult lehnt und Klartext spricht.
Nahles sagt, es sei kein Naturgesetz, dass die SPD in der Opposition stärker sei als in der Regierung. Sie wisse nicht, zu welchem Ergebnis die Gespräche mit CDU und CSU führen werden. Aber eines sei klar: „Wir verschenken nichts.“ Und Nahles wäre nicht Nahles, wenn sie nicht Schulhofatmosphäre in die Parteitagshalle holen würde: „
Es ist einer der wenigen wahren Momente auf diesem Parteitag, den SPD-Chef Martin Schulz als „historisch“ angekündigt hat und den er dann mit einer lauwarmen Rede eröffnet. Für Schulz geht es darum, im Amt zu bleiben. Für die Partei aber geht es tatsächlich um die Existenz. Nach dem 20-Prozent-Debakel bei der Bundestagswahl suchen die Sozialdemokraten nach Orientierung, sie ringen mit sich, ob sie sich besser in der Opposition erholen oder doch weiter regieren sollen.
Olaf Scholz wird abgestraft
Am Ende beschließen die Delegierten, diese Entscheidung erst einmal zu vertagen. Und auch Schulz ist, obwohl er
, nur ein Parteichef auf Probe. Einer, der bleiben darf, weil die SPD schon zu viele Vorsitzende vom Hof gejagt hat und jetzt kein guter Zeitpunkt ist, auch noch eine Personaldebatte anzuzetteln. Schulz sagt, er sei „dankbar für diesen Vertrauensbeweis“. Er muss – und will – weitermachen.
Später bei der Wahl seiner Stellvertreter erhält Malu Dreyer, Regierungschefin in Rheinland-Pfalz und Kritikerin einer großen Koalition, 97,5 Prozent. Olaf Scholz dagegen, Hamburgs Bürgermeister und Befürworter einer Koalition mit der Union, kommt mit 59,2 Prozent auf das schlechteste Ergebnis.
SPD: Das sind die sechs Schulz-Vertreter
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Jusos verteilten „Rote Karten“
Zuvor hat Schulz kurz zurückgeblickt, und seine Stimme vibriert ganz leicht. „Ich habe schon so manches Auf und Ab in meinem Leben erlebt“, sagt er. Aber so ein Jahr wie dieses, das könne man nicht abschütteln. Er bittet bei den SPD-Wählern „für meinen Anteil an unserer Niederlage um Entschuldigung.“
In einem Interview wird er im Januar von Parteichef Sigmar Gabriel zum Kanzlerkandidaten ausgerufen. „Ein irres Gefühl“, twittert Schulz damals. „Ich bin demütig und dankbar.“ Im März dann kommt das 100-Prozent-Ergebnis, mit dem ihn der Parteitag offiziell nominiert. Es folgt der Höhenflug der SPD in Umfragen, der „Schulz-Hype“. Damals gilt Schulz seiner Partei als Heilsbringer, Jusos bezeichnen ihn in den sozialen Netzwerken als „Gottkanzler“. Heute verteilen sie „Rote Karten“ an die Delegierten des Parteitags – nicht gegen Schulz, aber gegen die große Koalition. Juso-Chef Kevin Kühnert sagt, seit dem letzten Beschluss der Parteispitze, in die Opposition zu gehen, habe sich faktisch nichts geändert. Die SPD könne nicht immer wieder gegen die Wand laufen.
Erklärung vom Wahlabend wie ein Mühlstein
Es ist Schulz’ großes Problem, dass er und die versammelte Parteispitze noch am 20. November vehement den Eintritt in eine große Koalition ausgeschlossen haben – unmittelbar nach dem Scheitern der Jamaika-Verhandlungen. Er findet diesen Beschluss noch heute richtig. Aber in Wahrheit hängt er ihm wie ein Mühlstein um den Hals. Ganz langsam muss er versuchen, die Partei zumindest für Gespräche mit der Union zu erwärmen. Nur darum geht es auf dem Parteitag .
Die Vorsitzenden der SPD seit 1946
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Drei Minuten höflichen Applaus bekommt Schulz nach seiner Rede. Lebhaften Beifall gibt es vor allem, als Schulz über Europa spricht. Die Hälfte der Zeit verwendet er darauf, für eine Erneuerung Europas zu werben. Er will die EU bis 2025 in die Vereinigten Staaten von Europa mit einem gemeinsamen Verfassungsvertrag umwandeln. Mitgliedstaaten, die dieser föderalen Verfassung nicht zustimmen, müssen laut Schulz die EU automatisch verlassen .
Schulz gibt die Brems-Garantie
Daneben aber lässt er kein Thema aus, weder den Klimawandel noch das Lohndumping. Dabei ist die Frage, die den Saal umtreibt: Soll die SPD regieren? Als Schulz das verhasste Wort „GroKo“ nach einer Stunde das erste Mal in den Mund nimmt, wird es still. „Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen“, sagt er. „Entscheidend ist, was wir durchsetzen können.“ Wohlwollender Beifall. Die Partei soll den Weg Richtung Schwarz-Rot jederzeit stoppen können. „Für dieses Vorgehen gebe ich euch meine Garantie.“
Das Problem ist nur: Viele SPD-Mitglieder glauben ihm nicht und auch nicht der restlichen Parteiführung. „Ihr glaubt uns nicht, dass wir ergebnisoffen in die Gespräche mit der Union gehen“, sagt Andrea Nahles. Der Großteil der fast 100 Redner spricht es immer wieder an: das fehlende Vertrauen.
Stegner: Hart verhandeln statt flüchten
Mehr Mut, mehr Selbstbewusstsein und auf jeden Fall „ergebnisoffene Gespräche“ mit der Union, das ist die gemeinsame Basis, auf die sich die SPD nach einer fast fünfstündigen Debatte einigen kann. Die Redner teilen kräftig aus gegen CDU/CSU und die FDP. Aber reden sollte man schon, das ist die Kompromiss. „Wenn wir mit denen nicht reden, dann ziehen die uns bei Neuwahlen das Fell über die Ohren“, warnt SPD-Parteivize Ralf Stegner. „Lasst uns beinhart verhandeln und nicht flüchten. Wir sind stärker als die anderen.“