Brüssel/Berlin. Angela Merkel könnte als Bundeskanzlerin ohne Mehrheit im Bundestag regieren. Solche Modelle gibt es schon in einigen Ländern Europas.

Die Idee einer Minderheitsregierung als Alternative zur Jamaika-Koalition ist nicht ganz neu, die SPD treibt die Debatte jetzt aber voran – um das Risiko von Neuwahlen zu umgehen. In Hessen, Sachsen-Anhalt, Berlin oder Nordrhein-Westfalen waren schon Landesregierungen im Amt, die für ihre Gesetzesvorhaben auf Unterstützung anderer Parteien angewiesen waren.

Auf Bundesebene wäre es allerdings ein Novum. Minderheitsregierungen gab es hier nur als sehr kurze Übergangslösung, etwa bei den Koalitionswechseln 1966 und 1982. Befürworter des Modells verweisen deshalb jetzt auf die reichhaltigen Erfahrungen in anderen europäischen Staaten.

Minderheitsregierung in Portugal

Aktuell haben insgesamt fast 80 Millionen Bürger in Spanien, Portugal, Dänemark, Norwegen und Schweden eine Regierung, die ohne eigene Mehrheit agiert; in der Vergangenheit war dies auch in Tschechien, der Slowakei oder Österreich, vor nicht langer Zeit auch in den Niederlanden der Fall. Beispiel Südeuropa: In Portugal wird seit 2015 eine sozialistische Minderheitsregierung unter Führung von Antonio Costa von zwei kommunistischen Parteien gestützt.

Das überraschend stabile Bündnis, das eine konservative Regierung abgelöst hatte, kann auf erste Anzeichen einer wirtschaftlichen Erholung im krisengeplagten Land verweisen. Inzwischen ist man selbst in der EU-Kommission, die anfangs große Zweifel an der Haushaltsdisziplin der neuen Regierung gehegt hatte, angetan von dem Erfolg.

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    Mariano Rajoys Regierung ist fragil

    In Spanien haben die Sozialisten unter José Luis Rodriguez Zapatero von 2004 bis 2011 ohne eigene Mehrheit das Land geführt. Seit 2016 stützt sich der konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy auf eine Minderheitsregierung, nachdem über ein Jahr lang keine andere Regierung gebildet werden konnte. Rajoys Partei Partido Popular stellt nur ein Drittel der Abgeordneten. Der Premier ist auf wechselnde Mehrheiten angewiesen, seine Regierung wird bislang von Liberalen und der Baskischen Nationalpartei geduldet. Doch bei allem Geschick Rajoys ist seine Regierung fragil und kaum in der Lage, die eigentlich notwendigen Reformen durchzusetzen; die Katalonien-Krise setzt ihn zusätzlich unter Druck.

    Das ist in Skandinavien anders: Dort sind Minderheitsregierungen fast schon der Normalfall – und sie funktionieren relativ gut, selbst heute, da die Parteienlandschaft auch im Norden unübersichtlicher geworden ist. In Norwegen etwa führt die konservative Ministerpräsidentin Erna Solberg seit vier Jahren eine Minderheitsregierung mit der rechtspopulistischen Fortschrittspartei – geduldet von den Christdemokraten und den Liberalen. Die lehnen den Eintritt in eine formelle Koalition ab, doch für ihre Unterstützung wurde eigens ein Vertrag ausgehandelt.

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      Rasmussen auf Rechtspopulisten angewiesen

      In Schweden setzt der sozialdemokratische Regierungschef Stefan Löfven ebenfalls auf wechselnde Mehrheiten; er regiert seit 2014 mit den Grünen, doch stellt dieses Bündnis nur 138 der 349 Mandate im Parlament. In Dänemark bilden gleich drei Parteien von Liberalen und Konservativen seit einem Jahr eine Mitte-rechts-Regierung ohne eigene Mehrheit; der konservativ-liberale Premier Lars Lokke Rasmussen ist auch weiter auf die Stimmen der rechtspopulistischen Volkspartei angewiesen. Ihre Hochzeit hatten die skandinavischen Minderheitsregierungen, als sich starke sozialdemokratische Parteien ihre Mehrheiten für einzelne Politikfelder mal in der Mitte, mal mit Partnern weiter links oder rechts organisierten.

      Auf lange Sicht hat diese Praxis erst die Opposition aufgewertet – und später den Aufstieg rechtspopulistischer Parteien erleichtert. Dass das skandinavische Regierungsmodell über lange Zeit relativ erfolgreich war, liegt auch an besonderen Voraussetzungen.

      Skandinavien erwies sich als handlungsfähig

      Da wäre etwa die politische Kultur: Kompromisse werden in Skandinavien traditionell weniger kritisch beäugt als anderswo, sie werden als politische Leistung geschätzt – den Parteien erleichtert das den Verzicht auf eigene Forderungen. Die Staaten sind mit Einwohnerzahlen zwischen sechs und zehn Millionen vergleichsweise klein – vergleichbar etwa mit dem Bundesland Niedersachsen.

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        So sind auch die Parlamente von überschaubarer Größe: Man kennt sich, man redet miteinander. In den Parlamenten Schwedens und Norwegens sitzen die Abgeordneten nicht einmal getrennt nach Fraktionen zusammen, sondern mit den Kollegen aus der jeweiligen Region. Aber eignet sich das wirklich für Deutschland – als dauerhafte Lösung, nicht nur für den Übergang? Experten bezweifeln das. Zwar erwiesen sich die skandinavischen Staaten trotz der Minderheitsregierungen als handlungs- und reformfähig, urteilt etwa der Politikwissenschaftler Sven Jochem. Doch die Zusammenarbeit sei kompliziert, es drohe ständig Reformstau.

        Merkel: „Ich bin sehr skeptisch“

        „Für Deutschland funktionieren solche Modelle nur bedingt als Vorbild“, warnt Jochem und verweist darauf, dass Deutschland für seine wichtige Rolle auf europäischer Ebene Stabilität und Verhandlungssicherheit brauche. So sieht es wohl auch Bundeskanzlerin Angela Merkel.

        Theoretisch könnte sie mit der Union eine zumindest vorübergehende Minderheitsregierung bilden oder eine weitere kleine Partei – am ehesten wohl die Grünen – dazuholen. Merkel aber konnte dem Gedanken bisher wenig abgewinnen. Sie habe eine Minderheitsregierung nicht geplant, sagt die Kanzlerin. Der Weg dahin müsse sehr genau überlegt werden: „Ich bin sehr skeptisch.“