Berlin. Kurz vor Mitternacht ließ FDP-Chef Christian Lindner die Jamaika-Sondierung platzen. Den Plan dazu hatten die Liberalen schon länger.

Es war keine Kurzschlussreaktion. „Wir haben nicht aus der Spontaneität des Augenblicks heraus entschieden“, sagt FDP-Parteichef Christian Lindner am Montagmittag. Es war ein Scheitern mit Ansage. Bereits in den Tagen zuvor hätten sie gewusst, dass „eine Einigung nicht wahrscheinlich“ sei.

Weil kein Vertrauen gewachsen sei, weil es nicht voranging bei den Streitpunkten – und weil sie Angst davor hatten, am Ende zu viel aufzugeben und mit Häme überschüttet zu werden. Die FDP steht an diesem Montag massiv in der Kritik – und betreibt deswegen Schadensbegrenzung frei nach Martin Luther: Hier stehen wir, wir können nicht anders.

FDP stürzt Deutschland in historische Unsicherheit

Rund zwölf Stunden zuvor

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gestürzt. Kurz vor Mitternacht trat Christian Lindner vor die Kameras: Neben ihm die anderen Unterhändler der FDP. Blasse, versteinerte Gesichter. Lindner spricht langsam, fast druckreif. „Wir wären gezwungen, unsere Grundsätze aufzugeben und all das, wofür wir Jahre gearbeitet haben.“

Sie könnten keine Politik mittragen, „von der wir im Kern nicht überzeugt sind.“ Lindners letzte Worte prangen kurz danach auf allen Internetportalen der FDP. Pink auf gelb, im neuen Layout der Liberalen. „Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“ Es ist der Slogan für die Nach-Jamaika-Zeit. Auf den ersten Blick sieht es aus wie eine neue

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Spätestens jetzt ist unübersehbar: Die Liberalen haben nicht erst um 23.45 Uhr entschieden, dass sie hinwerfen. Zweimal habe er Union und Grünen klargemacht, dass die FDP kaum noch an einen Erfolg glaubt – am Samstagmorgen und noch einmal mit Nachdruck Sonntagfrüh, sagt Lindner. Doch die Idee, alles hinzuwerfen ist im Grunde viel älter. Im Rückblick zeigt sich sogar, dass die FDP die ganze Zeit mit einem Plan B im Gepäck verhandelt hat. Er dürfte bereits am 24. September, dem Tag der Bundestagswahl, geboren sein.

FDP rechtfertigt Jamaika-Aus

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    Die FDP gab Jamaika nie mehr als eine Chance von 50:50

    An jenem Abend feiert die FDP ihr Comeback im Bundestag. Lindner freut sich, aber er wirkt längst nicht so euphorisch wie seine Anhänger. Eher besorgt: „Er war nie Feuer und Flamme für Jamaika“, sagt einer, der ihn schon lange begleitet. Regieren? Ja, das wollte er schon. Aber doch nicht ausgerechnet in einem Bündnis mit den Grünen, die zuletzt zum Lieblingsfeind der Liberalen aufgestiegen waren. Lindner sieht die Gefahr, dass die unerfahrene FDP in einem Bündnis mit Union und Grünen schnell unter die Räder geraten könnte.

    Am 18. Oktober beginnen die Sondierungen. Die Liberalen legen sich auf eine Prognose fest: Die Chancen für Jamaika stünden 50:50. Sie rücken in den folgenden Wochen nicht mehr davon ab. Egal, ob es Fortschritte gibt oder nicht. Zwei Tage später, am 20. Oktober, wählt die FDP ihre Fraktionsspitze. Christian Lindner wird Fraktionschef, sein Stellvertreter Wolfgang Kubicki soll Vizepräsident des Bundestags werden. „Es ist die Aufstellung für den wahrscheinlicheren Fall, dass die FDP die Oppositionsrolle einnimmt“, erklärt der Parteichef. Die Entscheidung bedeutet nicht, dass beide keine Regierungsposten wollen, falls Jamaika doch noch klappt, aber das stellt klar: Plan B ist nicht nur eine theoretische Variante.

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      Die FDP spielte mit dem Gedanken an die Eskalation

      Einen Monat später sollen die Sondierungen zu Ende sein. Am späten Abend vom 16. November zeigt sich: Es hakt an vielen Stellen. Und die Frage steht im Raum: Lässt einer die Gespräche platzen?

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      dass es mal Zeit wäre, demonstrativ vom Tisch aufzustehen, um alle wachzurütteln. Spätestens hier wird deutlich: Die FDP spielt mit dem Gedanken an die Eskalation.

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      , der Sonntag soll der entscheidende Tag sein. Bereits am Samstag überwiegt bei den Liberalen die Skepsis. Am folgenden Morgen wachen sie mit einem „Bild am Sonntag“-Interview des Grünen-Unterhändlers Jürgen Trittin auf. Der nennt den Kurs der FDP „euroskeptisch“ und ihre Haltung beim Familiennachzug „unmenschlich“.

      Abschaffung des Soli als ein Knackpunkt

      Als Lindner aus dem Auto steigt und zu den Verhandlungen in die baden-württembergische Landesvertretung eilt, hat er die Zeitung unterm Arm. Wie eine sichergestellte Mordwaffe. „Wie wollen sie erklären, dass sie mit uns was zusammen machen, wenn wir dauernd in sozialen Netzwerken, dauernd in der Öffentlichkeit, dauernd in den Medien lesen, was für schlimme Finger wir seien?“, wird Kubicki später fragen. Lindner jedenfalls will die Sache auf der Stelle platzen lassen, doch die anderen FDP-Sondierer überreden ihn, weiterzumachen. Es gebe noch Einigungschancen.

      Am Sonntagabend ziehen die Liberalen Bilanz. In drei wichtigen Punkten gibt es aus ihrer Sicht keinen Durchbruch: Bei der Abschaffung des Soli wollen Union und Grüne viel langsamer vorangehen als die FDP. Beim Kohleausstieg fordern die Grünen mehr als die FDP akzeptieren kann. Und schließlich lehnen Horst Seehofer (CSU) und Winfried Kretschmann (Grüne), die beiden Ministerpräsidenten von Bayern und Baden-Württemberg, ab, was die FDP seit Langem fordert: Der Bund soll mehr Einfluss bei der Bildung haben.

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      Einstimmig stehen Vorstand und Fraktion hinter der Entscheidung

      Um 22.30 Uhr beginnen die FDP-Unterhändler die Erklärung zu verfassen, die Lindner später vortragen wird. Als CDU-Chefin Angela Merkel kurze Zeit später erneut die Chef-Unterhändler zusammenruft, erklärt Lindner, dass die Liberalen die Verhandlungen verlassen, die Sondierungen seien für sie beendet. „Wir haben uns dann per Handschlag von allen verabschiedet.“ Draußen warten schon die Kameras.

      Am anderen Morgen holt sich Lindner Rückendeckung in seiner Partei: Einstimmig stellen sich Vorstand und Fraktion hinter die Entscheidung der Sondierer. „Wir sind raus“, fasst Kubicki zusammen.

      „Schmutzige Scheidung“ in einem halben Jahr

      Joachim Stamp, Integrationsminister in NRW, gehört zu denen, die bis zum Schluss auf ein Jamaika-Bündnis gehofft haben. Er klingt an diesem Montag tief enttäuscht, aber auch empört: Die Verhandlungen seien von Merkel nicht strukturiert worden – das „waren in vielen Bereichen Chaosverhandlungen.“ Heißt: Nicht nur die offenen Streitpunkte, auch die Angst vor einer Neuauflage des Dauerstreits aus alten schwarz-gelben Zeiten hat die FDP verschreckt.

      Ob sie noch mal mit sich reden lassen? Nein, nicht in dieser Konstellation. „Nichts wäre schlimmer als eine Beziehung einzugehen, von der man weiß, dass sie in drei Monaten oder in vier Monaten oder in einem halben Jahr zu einer schmutzigen Scheidung führen würde“, sagt Kubicki. Das habe das Land nicht verdient.