Berlin. Die Parteien haben die Sondierungen für diesen Samstag beendet. Doch über die großen Streitpunkte wird am Sonntag weiter verhandelt

Der Duden sagt: Sondieren, das bedeute, etwas „vorsichtig erkunden“. Aber vorsichtig ist nichts mehr hinter den verschlossenen Türen. Dort tagen sie seit Wochen, zuletzt bis spät in die Nacht. Sie verheddern sich, sie nähern sich an, dann giftet der eine wieder den anderen an, um am Ende erneut gemeinsam am Tisch zu sitzen. Manche sprechen von der schwierigsten Koalitionsbildung der Bundesrepublik.

Am Sonnabendmorgen beugt sich die Grüne Claudia Roth vor dem Konrad-Adenauer-Haus in Berlin tief in die Hand von CSU-Chef Horst Seehofer, sie lacht, er schmunzelt zurück. Ein Witz, eine Geste, ein Signal für den Endspurt? Hier in der CDU-Parteizentrale soll jetzt eine Entscheidung in den Sondierungsgesprächen her. Doch hat eine neue Bundesregierung aus CDU, CSU, Grünen und FDP überhaupt eine Chance?

Einigung in der Agrarpolitik

Bis zum frühen Abend diskutieren die vier Parteien noch einmal über die heiklen Streitpunkte: Klima und Migration. Bei weniger kontroversen Themen wie Wirtschaft und Verkehr gibt es Fortschritte, heißt es. Bei der Agrarpolitik habe man sich sogar bereits auf eine gemeinsame Linie verständigt. „Da ändert sich jetzt echt etwas“, sagte Grünen-Unterhändlerin Katrin Göring-Eckardt. Doch vor allem der Umgang mit dem Familiennachzug für Flüchtlinge, die nur ein begrenztes Aufenthaltsrecht haben, bleibt hart umkämpft.

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    Und selbst auf ein mögliches Ende der Verhandlungen können sich die Parteien bislang nicht einigen. „Die Deadline ist Sonntag 18 Uhr“, sagte etwa FDP-Parteivize Wolfgang Kubicki noch vor Beginn des Treffens. „Wenn wir bis Sonntag 18 Uhr nicht zurande kommen, ist das Ding tot.“ Ganz anders CSU-Chef Horst Seehofer. Ein Ende um 18 Uhr sei nicht möglich, da noch ein „Berg von Entscheidungen“ zu bewältigen sei

    Steinmeier warnt Parteien vor Debatte um Neuwahlen

    Doch der Druck auf die möglichen Koalitionäre wächst. Schon fast zwei Monate ist die Bundestagswahl her. Wochen des Verhandelns – um dann doch zu scheitern? Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor der Schlussetappe alle Parteien ermahnt, Neuwahlen zu vermeiden. „Es besteht kein Anlass zu panischen Neuwahldebatten.“

    Am Sonnabend um kurz vor 15 Uhr gehen die Verhandlungsführer aller Seiten nach der ersten gemeinsamen Sitzung auseinander – und ziehen sich zurück. Jeder zu seiner Partei. Dort beraten die Spitzenpolitiker mit ihren eigenen Leuten, wie weit sie gehen können bei möglichen Kompromissen.

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      Es gab Kaffee und Currywurst

      Das heißt es jedenfalls. Denn nur wenig dringt nach außen, vor die Glastür am Konrad-Adenauer-Haus, an dem Kameraleute und Journalisten seit den Morgenstunden warten. Es gibt Kaffee und Currywurst von der CDU, neben dem Büffet steht eine Pappfigur von Konrad Adenauer. Doch aktuelle historische Fernsehbilder: Fehlanzeige.

      Nie in der Geschichte Deutschlands hat die CSU mit den Grünen regiert, nicht einmal auf Länderebene. Doch beide Parteien wollen jetzt im Bund das Land führen. Und auch die FDP könnte mit Jamaika direkt von der außerparlamentarischen Opposition an die Macht kommen. Kanzlerin Angela Merkel gilt ohnehin als diejenige, die bis zuletzt um Kompromisse kämpfen will. Sie will ihre vierte Amtszeit, ihre CDU wurde trotz Verlusten bei der Wahl stärkste Kraft. Für alle steht an diesem Wochenende viel auf dem Spiel.

      Ilse Aigner bringt sich als CSU-Spitzenkandidatin in Stellung

      Gerade für die CSU ist diese Phase heikel – ihr Chef Horst Seehofer ist nach den schlechten Ergebnissen bei der Bundestagswahl in den eigenen Reihen mit Machtkämpfen konfrontiert. Bayerns Wirtschaftsministerin Ilse Aigner bringt im Gespräch mit Parteifreunden eine Urwahl des Spitzenkandidaten für die Landtagswahl und sich selbst als Bewerberin ins Spiel, berichtet die „Bild“-Zeitung.

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        Demnach würde sie sich selbst einem solchen Mitgliedervotum stellen und antreten, sollte Seehofer nicht mehr kandidieren. Sie sehe darin eine Chance, die zerstrittenen Lager in der CSU zu befrieden. Eine Sprecherin Aigners wollte die Berichte weder bestätigen noch dementieren. Aigner halte sich an die Linie, bis zum Parteitag im Dezember keine Personaldebatten zu führen, sagte sie.

        Debatte um die Zukunft Seehofers

        Doch für ihren Vorstoß mitten in den Sondierungsgesprächen erntet Aigner Protest. Kultusminister Ludwig Spaenle weist die Idee scharf zurück. Der Vorschlag sei „ein Lehrbeispiel für politisches Leichtmatrosentum“. Jeder könne sich für alles bewerben. Aber ein solch „durchsichtiges politisches Manöver“ diskreditiere das Instrument der Mitgliederbefragung. Seehofer wollte die Berichte nicht kommentieren. Er beteilige sich nicht an Personaldiskussionen, „solange wir über die historisch wichtige Frage reden, ob eine Regierungsbildung möglich ist“.

        Der Parteichef wehrt Angriffe auf seinen Vorsitz ab, die Verhandlungsfront mit den Grünen ist schon hart genug. Die entscheidende Frage ist: Welche Asyl- und Zuwanderungspolitik will Deutschland künftig fahren? Ein Richtungsstreit, der sich daran aufhängt, ob Menschen mit einem „subsidiären Schutz“ ihre engsten Angehörigen nachholen dürfen.

        Es geht um mehr als Zahlen

        Knapp 100.000 Menschen erhielten in 2017 bisher diesen Schutzstatus. Sie sind nicht persönlich politisch verfolgt, doch in ihrem Heimatland herrscht Krieg. Das trifft vor allem auf Syrer zu. Ob bald 60.000 Familienangehörige nachkommen oder einige Hunderttausend, ist umstritten. Jede politische Linie hat ihre eigene Schätzung. Experten halten einen niedrigeren Wert derzeit für plausibel. Doch Gewissheiten gibt es nicht.

        Und in den Sondierungen geht es um mehr als nur Zahlen. Es geht um Deutschlands Asylpolitik im Jahr zwei nach der großen Fluchtkrise. Und darum, vor der eigenen Parteibasis das Gesicht zu wahren.