Berlin/Zawiya. Die EU setzt auch auf die libysche Küstenwache. Doch wer sind diese Männer? Die UN warnt vor Misshandlungen und Menschenhandel.

Der Tag endet in einem Raum, der klein ist und karg, mit einem Fenster und einer Tür aus Eisenstangen. An der Wand stehen eine Kommode und ein Kühlschrank, Matratzen liegen auf dem Boden. Dittmar Kania sucht sich eine, Michael Herbke nimmt eine andere. Und der Kommandant, der sich als Abdulrahman vorstellt, legt sich für die Nacht auf eine dritte Matratze. Die Maschinenpistole an seiner Seite.

Der Tag hatte friedlich begonnen, mit dem stillen, weiten Meer, einige Seemeilen entfernt von der libyschen Küste. Kania und Herbke, die beiden Deutschen, hatten hier in ihrem Schnellboot „Speedy“ die Nacht verbracht, eine Testfahrt von Tunesien aus, bevor die Reise der Crew von dort mit dem großen Schiff losgeht. Sie sind Helfer der Organisation „Sea Eye“ aus Regensburg. Als sie schon auf dem Rückweg nach Tunesien waren, tauchte plötzlich ein kleines, aber schnelles Boot hinter ihnen auf. „Piraten“, dachten die beiden Männer und gaben Gas. Doch da fielen schon Warnschüsse aus den Gewehren. Männer in Tarnfleck stoppen sie. Einer von ihnen ist Abdulrahman. Es ist September 2016.

Tödliches Meer

Die Küste vor Libyen ist tödlich. Fast 2500 Menschen sterben in diesem Jahr, als sie versuchen, in wackeligen Schlauchbooten oder alten Holzkähnen von dem nordafrikanischen Staat aus Europa zu erreichen. Mehr als 100.000 Menschen schaffen es in 2017, mehr als 180.000 waren es in 2016. Sie kommen derzeit vor allem Nigeria, Guinea, Bangladesch und der Elfenbeinküste.

Afrikanische Flüchtlinge an Bord eines Rettungsbootes der spanischen NGO „ProActiva Open Arms“ auf dem Mittelmeer.
Afrikanische Flüchtlinge an Bord eines Rettungsbootes der spanischen NGO „ProActiva Open Arms“ auf dem Mittelmeer. © dpa | Bram Janssen

Nach dem Sturz von Diktator Gaddafi 2011 brachen in Libyen erst der Staat zusammen und dann der Bürgerkrieg aus. Zwei Regierungen bekämpfen sich gegenseitig, das Land ist gespalten, und die Lage ohnehin im Nebeneinander von lokalen Herrschern und traditionellen Stämmen kaum zu durchschauen. In einigen Provinzen und in den Weiten der Wüste breiten sich bewaffnete Milizen aus, kontrollieren Straßen und Fabriken. Auch die Terrororganisation „Islamischer Staat“ agiert in Teilen Libyens.

Wer kann, flieht. 500.000 Menschen, vielleicht sogar eine Million. So viele sollen derzeit in dem Land sein und auf einen Platz in den Booten der Schlepper hoffen. Die Zahlen der Bundesregierung, der EU und des Flüchtlingshilfswerks UNHCR variieren. Es gibt Berichte, dass viele Migranten in privaten Knästen der Milizen oder staatlichen Gefängnissen eingesperrt sind. Die Vereinten Nationen, aber auch Diplomaten schreiben von unwürdigen Verhältnissen, auch von Menschenhandel, Sklaverei, Folter und Toten.

„Blackbox Libyen“

Was in Libyen genau passiert, ist allerdings wenig dokumentiert. Die Flüchtlinge, die Europa erreichen, berichten davon. Die Botschaften und Regierungen der EU haben ihre Kontakte, auch über Nachrichtendienste. Libysche Medien und die staatlichen Stellen berichten ihre Sicht.

Einen kleinen Einblick gibt auch das, was die Deutschen Herbke und Kania über die Tage im September 2016 erzählen, als sie von Abdulrahmans Leuten verhaftet worden sind und nach Zawiya gebracht wurden, eine Stadt im Nordwesten Libyen. In dieser Region legen fast alle Schlauchboote mit Flüchtlingen ab.

Libysche Küstenwache fängt Flüchtlinge ab

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    „Wir wurden sechs Stunden verhört“, berichten die beiden heute. Sie seien in libysches Hoheitsgewässer eingedrungen, werfen die Männer in Camouflage ihnen damals vor. Was sie hier suchen? Warum sie Flüchtlinge retten? Was sie mit dem Schnellboot wollen? „Sie nahmen uns Handy, Pass und Geld ab“, sagt Herbke. „Dann brachte uns der Kommandant auf sein Anwesen.“ Ein Gelände, auf dem ein die Hütte mit dem Raum und den Matratzen steht, daneben ein größeres Haus, eine Koppel für Pferde und eine Voliere mit Hunderten Wellensittichen und Kanarienvögeln.

    Später deponiert Abdulrahman noch eine Panzerfaust und Geschosse in der Hütte. Er ist ein junger Mann um die 30, schwarzes Haar, Bart. Er bewaffnete einige Männer, kaufte ein Schiff. Sein Geld verdiene er als Pferdehändler, erzählt Abdulrahman. Und seine Clique beschlagnahme illegale Fischerboote aus Tunesien. Den Fang verkaufen sie oder kassieren Strafzahlungen ein, berichtet der Libyer auch einem Reporter der „Süddeutschen Zeitung“, der ihn im Sommer porträtiert. Der Hafen sei sein Territorium, sagt Abdulrahman. Sein Kampfname: „Al-Bija“.

    Gespräche über deutsche Autos

    Herbke und Kania waren auf dem Grundstück eingesperrt. Aber sie erzählen, dass sie gut behandelt worden seien: Man gibt ihnen essen, sie können sich duschen. Sogar die Eltern von Abdulrahman besuchen sie. Abends sitzen sie manchmal mit ihm und seinen Leuten auf der Terrasse. Nur wenige der Männer sprechen Englisch. Und wenn sie über Deutschland reden, dann nur gut. Über die schnellen Autos.

    Mitarbeiter der spanischen NGO „ProActiva Open Arms“ retten eine Frau aus Ghana.
    Mitarbeiter der spanischen NGO „ProActiva Open Arms“ retten eine Frau aus Ghana. © dpa | Bram Janssen

    Oder über Feldmarschall Rommel, dessen Truppen hier im Zweiten Weltkrieg bei seinem Afrika-Feldzug vorbeimarschiert sein sollen. „Wir hatten keine Angst, aber wir waren wütend“, sagt Herbke. „Niemand sagte, was mit uns passiert.“ Mal telefoniert Abdulrahman mit jemandem in der Hauptstadt Tripolis, mal ruft ein Vertreter der deutschen Botschaft in Tunesien an. Mal heißt es, sie müssten noch einmal verhört werden, dann wieder sagte man ihnen, sie könnten bald nach Deutschland.

    Vieles spricht dafür, dass auch aufgrund von Männern wie Abdulrahman seit einigen Wochen weniger Flüchtlingsboote aus Libyen in Richtung Europa ablegen.

    Im ganzen August erreichten nicht einmal 4000 Italien, noch im Juli waren es laut UNHCR fast 12.000, im Juni mehr als 23.000. Im September kamen bisher gerade etwas mehr als 1000 Menschen in Italien an, vergangenen September waren es fast 17.000, im Oktober 2016 sogar fast 30.000. Denn im Spätsommer boomt das Geschäft der Schleuser. Die See ist ruhig, das Mittelmeer wärmer.

    Bewohner wehren sich gegen Schleuser

    In den vergangenen Monaten waren die Rettungsmissionen von EU-Marine-Schiffen, der italienischen Küstenwache und Booten der Hilfsorganisationen ein Wettlauf: fast jeden Tag kamen neue Meldungen von Schlauchbooten in Seenot, so geht das seit zwei Jahren. Manchmal holten die Helfer mehrere Tausend Geflüchtete aus den seeuntauglichen Booten, brachten sie zu größeren Schiffen und dann weiter zur Registrierung in die Häfen der italienischen Küstenstädte. Ein erfolgreicher Tag war ein Tag ohne Ertrunkene. Doch der Druck vor allem auf Italien wuchs, die Regierung fühlt sich mit den ankommenden Migranten innerhalb der EU in Stich gelassen.

    Doch mittlerweile legen kaum mehr Schleuserboote in Libyen ab. Und wenn sie doch in See stechen, kommen sie offenbar nicht weit. Wer nachforscht, findet dafür mehrere Gründe: Zum einen lehnen sich offenbar Bewohner einzelner Städte an der libyschen Küste gegen die Schleppergeschäfte an ihren Stränden auf und vertreiben die Kriminellen. Zum anderen ist die Lage für die freiwilligen Helfer aus Europa brisant, viele private Organisationen verließen das Gebiet vor Libyen. Mehrfach war zu riskanten Störmanövern, auch Warnschüssen, durch die Küstenwache Libyen gekommen, die das Gebiet auch über die Zwölf-Meilen-Seegrenze für sich beanspruchen.

    Andere, vor allem EU-Innenpolitiker und manche Regierungschefs, sprechen von einer „Hilfsbrücke nach Europa“, die durch die zahlreichen privaten Flüchtlingshelfer entstanden sei. Teilweise waren die Boote der Schleuser so instabil, dass sie schon wenige Seemeilen von der libyschen Küste entfernt hilflos auf dem Meer trieben. Und dann an Land gebracht wurden – nach Italien.

    Verfahren gegen Helfer

    Afrikanische Flüchtlinge südwestlich von Malta nach ihrer Rettung auf dem Deck des
    Afrikanische Flüchtlinge südwestlich von Malta nach ihrer Rettung auf dem Deck des "Aquarius" Schiffs der SOS Mediterranee. © dpa | Darko Bandic

    Im Sommer griff die italienische Regierung ein. Sie erließ einen umstrittenen „Verhaltenskodex“, den die privaten Helfer unterzeichnen sollten. Er soll einerseits die Arbeit zwischen NGOs und den italienischen Behörden besser koordinieren, andererseits schränkt er die Arbeit der Organisationen ein und lässt sogar zu, dass italienische Polizisten die Helfer an Bord kontrollieren, etwa wenn der Verdacht vorliegt, dass Flüchtlingsaktivisten mit Schleppern zusammenarbeiten. Derzeit läuft ein Verfahren gegen eine der Gruppen. Beweise für eine derartige Kooperation gibt es bisher in keinem Fall.

    „Ärzte ohne Grenzen“ und andere Gruppen nach Ankündigung des „Verhaltenskodexes“ das Gebiet vor Libyen verlassen. Sie fühlen sich kriminalisiert. Den Vorwurf, man befeuere das Geschäft der Schlepper, wollen sie nicht gelten lassen. Man rette Menschenleben und leiste, was die EU mit ihrer „Abschottungspolitik“ unterlasse, sagen viele von ihnen.

    Jeder auf See hat die Pflicht, Menschen in Not zu helfen. Das Völkerrecht hält dies im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen fest. Mehrere Gutachten von Wissenschaftlern im Auftrag des Bundestags halten den „Kodex“ daher für heikel, sofern damit die Seenotrettung behindert werde. Die Bundesregierung von Union und SPD erachtet die Maßnahme der Italiener dagegen für „sinnvoll“, schreibt das Auswärtige Amt in einer Antwort auf Nachfrage der Grünen-Fraktion. Der „Verhaltenskodex“ stehe „mit den völkerrechtlichen Vorgaben über Seenotrettung im Einklang“. Zudem sei den Organisationen „im Einzelfall“ ein „abweichendes Verhalten“ möglich. Wie genau, schreibt das Außenministerium nicht.

    Dass die Libyer ihren „Such- und Rettungsbereich“ ausgeweitet hätten, bedeute weder eine „Ausweitung der libyschen Hoheitsgewalt“ noch dürfe es zu „völkerrechtswidrigen Einschränkungen von Seenotrettungen durch Nichtregierungsorganisationen“ kommen. Wie die Bundesregierung dies prüfen wolle, schreibt sie nicht. Man weise die libysche Seite in Gesprächen darauf hin, heißt es. Der „Kommandeur der libyschen Küstenwache“ habe zudem gegenüber dem deutschen Botschafter bestätigt, dass dieser eine „enge Zusammenarbeit“ mit Schiffen der EU anstrebe.

    Wohin fließt das Geld?

    Die Opposition übt an dem „Verhaltenskodex“ und der Haltung der Bundesregierung scharfe Kritik. Die Regierung wisse „von der dramatischen Lage und dem täglichen Sterben auf dem Mittelmeer“ und nehme „billigend in Kauf, dass die Zivilgesellschaft daran gehindert wird, Schutzsuchende zu retten“, sagt die flüchtlingspolitische Sprecherin der Grünen, Luise Amtsberg, dieser Redaktion. „Sei es durch fragwürdige Kodizes oder durch eine libysche Küstenwache, die selbst Teil des Problems ist.“ Im Bemühen um einen Rückgang der Ankunftszahlen scheine der deutschen Regierung „jedes Mittel Recht“, so Amtsberg.

    Welche Rolle spielt diese Küstenwache bei der Frage, warum die Zahlen der Migrantenboote so stark gesunken sind?

    Seit Monaten bildet die EU ihre Mitglieder aus, es fließt weiteres Geld in „Hilfsprogramme“ nach Libyen, der Wert insgesamt: 200 Millionen Euro. Im Februar schließt Italien einen Deal mit einem der libyschen Regierungschefs, Fayez Sarraj. Als Gegenleistung zu den Millionen aus Rom sollen libysche Küstenwächter Schlepperboote aufhalten, bevor sie auf internationale Gewässer treiben und von den Europäern aus der Seenot gerettet werden müssen.

    Nur an wen genau fließt das Geld?

    Flüchtlinge vor der libyschen Küste in einem Holzboot. Im Hintergrund ist das Rettungsschiff „Aquarius“ zu sehen, das die Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée für eine Rettungsmission nutzen.
    Flüchtlinge vor der libyschen Küste in einem Holzboot. Im Hintergrund ist das Rettungsschiff „Aquarius“ zu sehen, das die Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée für eine Rettungsmission nutzen. © dpa | Darko Bandic

    Fast vier Tage hält Abdulrahman die beiden deutschen Helfer fest. Dann kommen sie frei, ein Schiff der Bundeswehr holt sie vor der Küste Libyens ab. Abdulrahmans Leute fahren sie hin, zum Abschied reichen sie ihnen noch eine Portion Hammelfleisch. Sogar Geld, Handy und Pass bekommen sie zurück. Ihr Schnellboot nicht. „Wenn ihr Engländer, Amerikaner oder Franzosen gewesen wärt, hättet ihr drei Monate im Gefängnis gesessen“, habe Abdulrahman den beiden Deutschen erzählt. Michael Herbke sagt: „Uns war bis zuletzt nicht klar, welche Rolle Abdulrahman in der Politik mit den Migranten spielt.“

    UN-Bericht mit schweren Vorwürfen

    Der Libyer selbst habe ihnen erzählt, dass er die lokale Küstenwache anführe. Dass er gegen Öldiebe an den Bohrinseln vorgehe. Und dass er Schleuser bekämpfe. Sie würden die Menschen aus den Schlauchbooten retten und an Land bringen. Was dann mit den Migranten passiert, erfahren die beiden deutschen Helfer nicht. Nur, dass Abdulrahman auf eigene Faust arbeiten würde, sagt er ihnen. Geld von der Regierung bekomme er nicht.

    In einem Bericht aus diesem Sommer dokumentieren Mitarbeiter der Vereinten Nationen ein weiteres Mal, wie Migranten in Libyen geschlagen, ausgeraubt und in private Auffanglager gebracht würden. Dort würden sie in einigen Fällen auch versklavt oder als Sexarbeiter missbraucht. In dem Report heißt es, dass Armee, Kriminelle und verschiedene Gruppen der Küstenwache mitunter gemeinsame Geschäfte machen würden.

    Auch der Name Abdulrahman Milad, alias Bija, fällt. Er hätte, wie andere der Küstenwache, auf Migrantenboote geschossen und zum Teil versenkt. Der Bericht legt nahe, dass es weniger um das Leben der Flüchtlinge geht, sondern vielmehr darum, unliebsame Konkurrenten im Kampf um Macht und Geld loszuwerden.

    Die 300 Seiten dicke Analyse der Vereinten Nationen nennt weitere Namen: zum Beispiel Ahmed Dabashi. Er soll nun den Kampf gegen Schleuser in der Region um die Stadt Sabratha anführen. Dabei hat Dabashi demnach selbst jahrelang Geld mit Menschenhandel verdient. Dann tauchen zwei Brüder in dem UN-Bericht auf: Mohamed und Walid Koshlaf. Sie würden eine Raffinerie in Zawiya kontrollieren, auf deren Gelände nun ein Internierungslager für Migranten sei. Auch hier soll es zu Misshandlungen gekommen sein. Frauen sollen auf einem Markt als „Sexsklaven“ angeboten worden sein. Wo der Bericht sonst allerdings Fotos und Dokumente als Belege bringt, ist er hier nur knapp formuliert. Dort heißt es dann auch: Abdulrahman Milad stehe in engen Verbindungen zu den Koshlaf-Brüdern.

    Video der Küstenwache – mit dem Boot der Deutschen

    Ist Abdulrahman, Kampfname „Al-Bija“, ein Menschenrechtsverletzer? Ein Warlord, der Geschäfte macht? Oder jemand, der die Seiten gewechselt hat und nun mit der von Europa unterstützten Regierung zusammenarbeitet und Schleuser bekämpft? Oder trifft alles von dem auf Abdulrahman zu?

    Erst vor ein paar Tagen verlinkt er ein Video auf seiner Facebook-Seite. Gut vier Minuten, die offenbar die libysche Küstenwache in Aktion zeigen: wie sie Frachter stürmen, Waffen beschlagnahmen, wie sie Seeleute festnehmen, wie sie Migrantenboote evakuieren und verbrennen. Das Video ist unterlegt mit Fanfaren-Musik und zeigt Männer in Tarnfleck und mit Maschinengewehren. In einer kurzen Sequenz taucht ein Schnellboot auf, das die Männer stoppen. Es ist das Boot der Flüchtlingshelfer Michael Herbke und Dittmar Kania.