Berlin. Außenminister Gabriel verschärft den Streit mit Ankara und Präsident Erdogan. Eine harte Linie ist gefragt, aber zahlt sie sich aus?

Aydan Özoğuz traut sich nicht, in die Türkei zu reisen. Ihre Familie hat sie seit längerer Zeit nicht mehr sehen können. „Ich kenne viele, die diese Situation genau wie mich sehr belastet“, erzählt die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung „Zeit online“. Die Sozialdemokratin folgt ihrem Parteifreund und Außenminister Sigmar Gabriel, der von Türkei-Reisen abrät. „Man kann das nicht mit gutem Gewissen machen zurzeit“, sagt er in „Bild“. Sein Ministerium meidet freilich eine förmliche Reisewarnung. Nur dann könnten Türkei-Urlauber Buchungen kostenfrei stornieren.

Gabriel weiß, wen er in erster Linie trifft, den Kellner, den kleinen Hotelier an der Westküste, „die eigentlich deutsch- und europafreundlich sind.“ Er weiß zugleich, wen Reisewarnungen kalt lassen: Recep Tayyip Erdogan. Unbeirrt macht sich der türkische Präsident seinen Staat zur Beute, jeden Tag ein Stück.

FDP: Türkei-Politik der großen Koalition gescheitert

Die Ausbeute vom Freitag: Per Dekret entfernt er 900 Personen aus öffentlichen Institutionen, Ministerien und Militär. Bislang wurden mehr als 150.000 Menschen entlassen oder suspendiert, 50.000 kamen ins Gefängnis. Dem Generalstaatsanwalt erlaubt Erdogan, gegen Abgeordnete zu ermitteln, die prokurdische Nachrichtenagentur Dihaber und zwei Zeitungen werden geschlossen. Gleichzeitig setzt sich Erdogan an die Spitze eines Gremiums, das den Geheimdienst MIT koordiniert, und verfügt, dass die Justiz gegen dessen Chef nur ermitteln darf, wenn er es erlaubt.

Recep Tayyip Erdogan bei einer Parade im Juli in Ankara.
Recep Tayyip Erdogan bei einer Parade im Juli in Ankara. © ddp images/abaca press | AA/ABACA

Erdogan trete seit Langem „westliche Werte mit Füßen“, schimpft der Europapolitiker Alexander Graf Lambsdorff (FDP). Die Türkei-Politik der großen Koalition sei „gescheitert“, sagt er unserer Zeitung. „Verschärfte Reisehinweise allein reichen in einer solchen Situation nicht aus, um klare Kante zu zeigen.“ Die Bundesregierung konzentriert sich darauf, die eigenen Staatsbürger zu schützen, allen voran die jüngst inhaftierten Journalisten Deniz Yücel und Mesale Tolu Corlu sowie den Menschenrechtsaktivisten Peter Steudtner. Sie werden ohne konkreten Grund festgehalten, abgesehen vom Pauschalvorwurf der Unterstützung von Terroristen.

Interpol löscht Suchvermerk für Schriftsteller Dogan Akhanli

In den Verdacht kann jeder geraten, der Kontakte zum Netzwerk des Geistlichen Fethullah Gülen haben könnte, den Erdogan für den Putschversuch vor einem Jahr verantwortlich macht. Für Verstimmung sorgt auch die Festnahme des Schriftstellers Dogan Akhanli in Spanien. Auslöser war ein türkisches Ersuchen. Offenbar hat die Polizeibehörde Interpol nun ihren Dringlichkeitsvermerk gelöscht, die „Red Notice“. Damit entfällt die Rechtsgrundlage, nach der Akhanli Spanien nicht verlassen durfte. Schwieriger wird es, die Freilassung deutscher Gefangenen zu erzwingen. Die Chance sei „nicht sehr groß, wenn man ehrlich ist“, räumt Gabriel ein.

Wie kein Zweiter verkörpert der Sozialdemokrat das Zerwürfnis. Das hat persönlich eine tragische Note. Gabriel bezeichnet sich seit Jahren als Freund der Türken. Er kennt Land und Leute, war neun Jahre mit einer Türkin verheiratet. Seine Partei hat jahrelang einen EU-Beitritt des Landes unterstützt.

Die Deutschen erwarten von ihrer Regierung „klare Kante“

Gabriel kann Erdogan „lesen“ wie ein Schachspieler, der alle Eröffnungen seines Gegners studiert hat. Der Präsident provoziere gezielt Deutschland, „weil er einen äußeren Gegner braucht, um die inneren Widersprüche seiner Regierungspolitik zu überdecken“, analysiert Gabriel. Mit jedem Angriff gegen Erdogan lässt man den Präsidenten umso stärker erscheinen. Gabriel weiß das. Früh hat der Bauchpolitiker gespürt, was die Deutschen gleichwohl erwarten: 81 Prozent sagen, dass sich die Regierung zu viel von der Türkei gefallen lasse. 72 Prozent sind dafür, dass Deutschland mehr wirtschaftlichen Druck ausübe. Gerade Gabriel hat schon Anfang Juli auf einen härteren Kurs gedrängt. „Tatenlos zusehen können und wollen wir nicht.“ Nicht nur Menschen haben eine Selbstachtung. Staaten haben sie auch.

Auf die „Sprache eines Wirtshaus-Schlägers“, die SPD-Chef Martin Schulz bei Erdogan ausmacht, lässt sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) gar nicht erst ein – Gabriel umso mehr. Erdogan ist Widerspruch entwöhnt, Gabriels Kritik aber drang sogar bis in die Echokammer des Präsidenten: „Wer sind Sie, dass Sie mit dem Präsidenten der Türkei reden? Beachten Sie Ihre Grenzen!“ Von Ankara aus betrachtet, ist Gabriel ein Wahlkämpfer, der sein Mütchen an den Türken abkühlt. „Wahlen kommen und gehen, aber Freundschaften bleiben. Wir warnen, vorsichtig zu sein“, sagt sein türkischer Kollege Mevlüt Çavuşoğlu. Gabriel habe eine „rote Linie“ überschritten. Längst ist er zur Reizfigur geworden, wird beschimpft. „Ich kann professionell damit umgehen“, beteuert Gabriel, „ich fand schlimmer, was Präsident Erdogan über Deutschland gesagt hat – Nazi-Deutschland.“ Getroffen reagierte er, als seine Ehefrau am Telefon beschimpft wurde.

Bundesregierung hat die Wirtschaftshilfe reduziert

Die Regierung steht vor der Wahl zwischen zwei Übeln: Erdogan mit Angriffen aufzuwerten oder sich zurückzuhalten, aber sich bei den eigenen Bürgern unmöglich zu machen. Gabriel weiß, dass die harte Kante fruchtlos ist. „Sollen wir die diplomatischen Beziehungen abbrechen?“, fragt er, „dann kommen die Häftlinge auch nicht früher raus.“ Sollen wir die Türkei aus der Nato werfen? „Dann laufen sie in die Arme Putins.“

Die Bundesregierung hat die Wirtschaftshilfe reduziert und blockiert in Europa die von der Türkei gewünschte Zollunion. Beitrittshandlungen, so Gabriel, gebe es in Wahrheit nicht. Unter Erdogan werde die Türkei niemals ernsthafte Beitrittsverhandlungen führen können. Lambsdorff lässt das nicht gelten. Union und SPD sollten sich „ehrlich machen“, den Beitrittsprozess „sofort beenden“ und nicht „künstlich am Leben halten“. Alternativ solle man einen Grundlagenvertrag in Aussicht stellen, „über den man reden kann, wenn die Türkei die zu Unrecht gefangen gehaltenen Deutschen wieder freigelassen hat.“

Schriftsteller Dogan Akhanli über türkischen Haftbefehl

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    Gabriels Wahlkämpfe auf eigene Faust sind berüchtigt

    Die Regierung hat wenige Optionen. Wer sich hinter den Kulissen danach erkundigt, bekommt spärliche Antworten. Sie kann Mitarbeiter türkischer Geheimdienste ausweisen, den deutschen Botschafter aus Ankara abziehen, bestimmte türkische Moscheegemeinden überwachen, Stipendien für geschasste Wissenschaftler, Journalisten und Künstler vergeben. Umgekehrt kann Erdogan ungleich mehr Schaden anrichten. Zuletzt hat er die Deutsch-Türken aufgerufen, bei der Bundestagswahl bestimmte Parteien nicht zu wählen. Das würde Gabriels SPD am meisten treffen. Laut einer Studie des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration präferieren 70 Prozent aller türkischstämmigen Wähler die SPD. Gabriel ist berüchtigt für Wahlkämpfe auf eigene Faust. Die Frage ist nur, wer seiner Partei mehr nützt, der zurückhaltende oder der enthemmte Gabriel.

    Erdogans Faustpfand ist das Flüchtlingsabkommen mit der EU. Bis 2018 sind sechs Milliarden Euro zugesagt. Die nächste Tranche steht an, erinnert EU-Kommissar Günther Oettinger. Womöglich wird die Regierung noch Hunderte Millionen Euro überweisen, eine Verlegenheit. „Wir müssen durch diese Zeit durch“, ahnt Gabriel und tröstet sich, „aber die Türkei wird es auch nach Erdogan geben.“