Berlin. Kehrtwende in der Abschiebepolitik? Die Bundesregierung will Abschiebungen nach Afghanistan aussetzen. Die Lage wird neu bewertet.
Nach dem schweren Terroranschlag im Diplomatenviertel der afghanischen Hauptstadt Kabul will die Bundesregierung Abschiebungen nach Afghanistan bis auf wenige Ausnahmen aussetzen. Diese vorläufige Regelung kündigte Kanzlerin Angela Merkel (CDU) am Donnerstag in Berlin nach einem Treffen mit den Ministerpräsidenten der Länder an.
Das Auswärtige Amt werde zunächst eine Neubewertung der Sicherheitslage vorlegen, sagte Merkel. Bis diese fertig sei und die deutsche Botschaft in Kabul wieder voll funktionsfähig sei, solle es keine regulären Abschiebungen geben.
Ausgenommen seien Straftäter und „Gefährder“ – also Personen, denen die Sicherheitsbehörden einen Terrorakt zutrauen. Auch für Menschen, die hartnäckig ihre Mitarbeit an der Identitätsfeststellung verweigerten, gelte das Abschiebemoratorium nicht, sagte die Kanzlerin. Das neue Lagebild solle bis Juli vorliegen.
Proteste gegen Abschiebung eines Schülers
Nach dem verheerenden Bombenanschlag in direkter Nähe der deutschen Botschaft in Kabul am Mittwoch mit Dutzenden Toten hatte die Debatte um einen Stopp sämtlicher Abschiebungen nach Afghanistan wieder an Fahrt gewonnen. Politiker von SPD, Linken und Grünen sowie Menschenrechtsgruppen hatten verlangt, keine Afghanen mehr zwangsweise in ihr Heimatland zurückzuschicken.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hatte einen für Mittwoch geplanten Abschiebe-Flug nach Afghanistan zwar zunächst abgesagt, aber betont, es gebe keine Änderung am aktuellen Kurs, und der Flug solle möglichst bald nachgeholt werden. Zudem sorgte der Fall eines 20-jährigen afghanischen Berufsschülers in Nürnberg für Proteste, dessen Abschiebung sich Mitschüler mit einer Sitzblockade widersetzten.
Vor der neuen Entwicklung am Donnerstag in Berlin hatte Thüringen von der Bundesregierung eine Neubewertung der Sicherheitslage in Afghanistan gefordert. Es brauche einen Abschiebestopp, sagte Migrationsminister Dieter Lauinger (Grüne) in Erfurt. In Thüringen gehe man weiterhin davon aus, dass Abschiebungen nach Afghanistan angesichts der derzeitigen Sicherheitslage allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen möglich seien.
Auch Schulz für Aussetzung
Auch SPD-Parteichef und Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte sich für eine Aussetzung der Abschiebungen nach Afghanistan eingesetzt. Es sei eine Überprüfung und Neubewertung der Sicherheitslage nötig, sagte er am Donnerstag beim WDR-Europaforum in Berlin.
Dagegen sagte Unionsfraktionschef Volker Kauder (CDU) im ARD-Morgenmagazin: „Einen grundsätzlichen Abschiebestopp nach Afghanistan halte ich nicht für richtig.“ Er plädierte jedoch dafür, jeden Einzelfall genau zu prüfen. (dpa/W.B.)
Bombenanschlag verwüstet Kabul