Essen/Mossul. Die vom „Islamischen Staat“ besetzte nordirakische Stadt Mossul leidet unter Bombenangriffen. Jetzt droht ein zermürbender Häuserkampf.

Der Mann ist aus der Hölle entkommen, und er ist verzweifelt. Er schluchzt in die Kamera, schlägt sich auf die Brust: „Drei meiner Töchter sind getötet worden. Drei meiner Babys.“

Tamer Suhalia Nadschaf, der auf dem Video der britischen BBC zu sehen ist, stammt aus dem hart umkämpften Westen Mossuls. Der Kampf gegen den sogenannten „Islamischen Staat“ (IS) fordert immer mehr zivile Opfer. Mehr als 4000 Einwohner der Millionenstadt im Nordirak sollen bereits getötet worden sein, weit über 1300 davon durch Luftangriffe.

Auch nach einer Untersuchung der Menschenrechtsorganisation Amnesty International wurden in Mossul Hunderte Zivilisten bei Luftangriffen getötet. Am 17. März kamen nach unterschiedlichen Angaben zwischen 100 und 230 Zivilisten bei einer gewaltigen Explosion im Viertel al-Dschadida ums Leben – es spricht manches dafür, dass sie Opfer eines Luftschlags der US-geführten Koalition wurden.

600.000 Menschen sollen noch im Kampfgebiet ausharren

Das hat nun auch das US-Militär nicht ausgeschlossen. „Meine erste Einschätzung ist, dass wir wahrscheinlich an den Todesopfern beteiligt waren“, sagt der US-Kommandeur der Anti-IS-Mission, General Stephen Townsend. Es habe mehrere US-Luftangriffe in der Gegend gegeben. Er betont aber, dass man keineswegs absichtlich Zivilisten angegriffen habe. Das Zentralkommando untersucht den Vorfall.

Mossul wurde im Sommer 2014 von den Dschihadisten des „Islamischen Staates“ überrannt. Mitte Oktober vergangenen Jahres begann die Offensive zur Befreiung der Stadt. Der Osten Mossuls gilt seit Mitte Januar befreit, im Westteil liefern sich irakische Armee-Einheiten, Spezialkräfte und Bundespolizisten seit Mitte Februar erbitterte Gefechte mit den verbliebenen IS-Milizionären. Sie haben zahlreiche Viertel zurückerobert und stehen in Sichtweite des Minaretts der Al-Nuri-Moschee, in der IS-Führer al-Baghdadi vor zweieinhalb Jahren das Kalifat ausrief.

Ein Blogger berichtet unter dem Pseudonym „Mosul­Eye“

Für die Einwohner entwickelt sich die Schlacht um Mossul zu einer Katas­trophe. Zehntausende haben sich in den vergangenen Wochen aus der Stadt retten können, bis zu 600.000 sollen aber noch im Kampfgebiet ausharren. Videos von kurdischen und westlichen Journalisten und die Drohnenaufnahmen des IS zeigen verwüstete Straßenzüge, zerschossene Häuser, Bombenkrater. Etliche Menschen sind bereits verhungert, darunter viele Kinder. Es gibt so gut wie keine medizinische Versorgung.

„Iraq Body Count“ listet seit Jahren akribisch die zivilen Opfer der Auseinandersetzungen im Irak auf. Die Aktivisten beziehen ihre Informationen aus irakischen Medien, Nachrichtenagenturen und von Menschen wie dem Blogger, der unter dem Pseudonym „Mosul­Eye“ aus der Stadt berichtete, seit sie vom IS eingenommen wurde. Durch ihn erhielt die Welt Einblicke in das Leben in der besetzten Stadt, über die Morde des IS, über die Unterdrückung der Bevölkerung, die Vertreibung von Minderheiten und die Zerstörung von Kulturgütern. Im Dezember verließ „Das Auge von Mossul“ die Stadt, der Blogger hält seine Identität noch immer geheim und hält sich jetzt an einem unbekannten Ort in der Kurdenhauptstadt Erbil auf.

Zivilisten haben keine Lebensmittel, kein Wasser und keinen Strom

Unsere Redaktion hat mit ihm über den Facebook-Messenger gesprochen. Der Blogger bestätigte die Angaben von „Iraq Body Count“ und berichtete von den gravierenden Problemen für die Bevölkerung: „Ich habe gestern mit meiner Familie gesprochen. Sie haben nichts mehr zu essen, kein Wasser, keinen Strom. Und meine Familie ist keine Ausnahme.“ Die Zerstörungen durch die Kämpfe und die Luftangriffe seien immens. „Häuser, Regierungsgebäude, die Universität, einige Krankenhäuser, ganze Stadtviertel sind zerstört, alles, was eine gute Stadt ausmacht, ist zerstört.“

Die IS-Kämpfer nutzen die Bevölkerung als menschliche Schutzschilde, errichten ihre Stellungen in Wohngebäuden und in Krankenhäusern. In den vergangenen Tagen sollen die Dschihadisten damit begonnen haben, Zivilisten gezielt in Gebäude zu pferchen, auf denen sie Scharfschützen und Granatwerfer positionieren. Damit, so Blogger „MosulEye“, wollten sie möglichst große Opferzahlen provozieren.

Einwohner flüchten aus Mossul

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    Noch etwa 1800 IS-Milizionäre in der Stadt

    Bei der Explosion am 17. März, bei der ein mit Sprengstoff beladener Lastwagen bei einem Luftangriff getroffen worden sein soll, seien so in einem Gebäude 130 Menschen ums Leben gekommen. Der kurdische Nachrichtensender Rudaw sprach von bis zu 230 Toten. Irakische Offizielle behaupten, die steigende Zahl der zivilen Opfer liege auch an gelockerten Einsatzregeln für das US-Militär seit dem Amtsantritt von Präsident Donald Trump. Luftschläge könnten jetzt einfacher angefordert werden. Die amerikanische Seite bestreitet das allerdings.

    Laut dem Blogger „MosulEye“ sind noch etwa 1800 IS-Milizionäre in der Stadt. „Die meisten von ihnen sind Teenager, unter ihnen sind nur noch wenige Ausländer.“ Trotzdem werden die Kämpfe in den kommenden Tagen nach Ansicht von Militärs noch an Intensität zunehmen. Die Fluchtwege für die verbliebenen Dschihadisten sind zu. Die irakischen Spezialkräfte rücken auf die Altstadt zu, deren verwinkelte, enge Gassen ein ideales Terrain für den Häuserkampf sind. Die IS-Kämpfer sollen zahlreiche Tunnel gegraben und Häuserdurchbrüche geschlagen haben, um sich unbemerkt bewegen und überraschend attackieren zu können.

    Die Fluchtwege für die Dschihadisten sind dicht

    Ein kurdischer General, der ebenfalls anonym bleiben will, hält die Opferzahlen für viel höher, als es „Iraq Body Count“ angibt. „Es sind mit Sicherheit seit November wesentlich mehr als 4000 Menschen gestorben.“ Eine Mitarbeiterin einer westlichen Hilfsorganisation sagte unserer Redaktion: „Was wir bislang erfahren, ist nur die Spitze des Eisbergs.“ Und für die Zukunft der Stadt sieht „Das Auge von Mossul“ schwarz. Er prophezeit: „Wenn die schiitischen Milizen in die Stadt gelangen, die Leute weiterhin keine Gehälter bekommen und keine Arbeit haben, und wenn die Stadt nicht zügig aufgebaut wird, wird es einen neuen Aufstand der Sunniten geben.“