Berlin. Laut Verfassungsschutz nimmt der IS Deutschland immer stärker ins Visier. Es gebe aktuell 1600 potenzielle islamistische Gewalttäter.

Am vergangenen Dienstag fuhren die Sicherheitsbehörden die Alarmbereitschaft hoch. Erste Meldungen machten in Polizei und Verfassungsschutz die Runde:

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Mehrere Personen seien verletzt worden. Anfangs war unklar: Ist der Täter ein Terrorist? Gibt es mehrere Angreifer? Kommt es zu weiteren Vorfällen in anderen Bahnhöfen? Der Angriff in Düsseldorf hatte nach Erkenntnissen der Ermittler keinen terroristischen Hintergrund. Der mutmaßliche Täter, ein 36-Jähriger, leide unter psychischen Problemen.

Doch bei der ersten Meldungen wurden Erinnerungen wach. Im vergangenen Sommer verletzte ein junger Afghane mit einer Axt und einem Messer vier Touristen in einem Regionalzug bei Würzburg schwer. Er hatte offenbar Kontakte zu Islamisten in Saudi-Arabien, möglicherweise Mitglieder der Terrorgruppe „Islamischer Staat“.

Mann verletzt mehrere Menschen mit Axt in Düsseldorf

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    Verfassungsschutz bekommt mehr Hinweise

    Terror-Szenarien spielen Länder- und Bundesbehörden sofort durch, sobald Meldungen wie die jüngste aus Düsseldorf auftauchen. Erste Warnzeichen auf einen möglichen terroristischen Anschlag lösen Ausnahmezustände aus. Alarmbereitschaft paart sich mit Angespanntheit und Nervosität. Am Wochenende sperrten Polizisten ein Einkaufszentrum in Essen ab, nachdem die Sicherheitsbehörden nach eigenen Angaben Informationen über einen geplanten Anschlag hatten.

    Es ist die Woche, in der der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz erneut vor Anschlägen in Deutschland warnte. „Wir haben eine unverändert hohe Gefährdungslage in Deutschland. Deutschland ist in der Zielauswahl des IS im Laufe des Jahres 2016 deutlich priorisiert“, erklärte Hans-Georg Maaßen in Berlin. Diese Warnungen sind nicht neu. Die Behörden wiederholen sie mittlerweile fast im Monatsrhythmus. Denn die Zahl der Hinweise nimmt zu.

    Deutschland wird mehr und mehr zum Ziel des IS

    Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen.
    Der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen. © dpa | Monika Skolimowska

    Aber auch die Qualität der Warnungen vor Gewalttaten. Anschläge seien nach Einschätzung des Verfassungsschutzes jederzeit möglich. Zuletzt hatte es mehrfach im Monat Durchsuchungen und Festnahmen von mutmaßlichen Extremisten geben, die laut Polizei Gewalttaten geplant hatten. „Deutschland ist in der Zielauswahl des IS im Laufe des Jahres 2016 deutlich höher priorisiert“, sagte der BfV-Präsident.

    Die Gründe dafür sind vielschichtig: Die Köpfe des IS riefen die Dschihadisten aus Europa zu Attentaten in ihren Heimatländern auf. In Syrien und Irak ist der IS militärisch auf dem Rückzug, verliert Kämpfer und Gebiete. Die Zahl der Ausreisen von mutmaßlichen IS-Anhängern aus Deutschland in Richtung Kriegsgebiet ist drastisch gesunken – von etwa 100 pro Monat in 2014 auf durchschnittlich fünf Personen pro Monat in 2016. „Die Anziehungskraft des sogenannten Kalifats schwindet weiter und ist fast nicht mehr existent“, schreibt der Terrorismus-Experte und Leiter des Bremer Landeskriminalamtes, Daniel Heinke, in einem Aufsatz für die Fachzeitschrift CTC Sentinel. Auch die Zahl der IS-Anhänger, die versuchen nach Deutschland zurückzukehren, steige.

    LKA-Leiter fordert „nationale Strategie zur Prävention“

    Das lenkt den Blick zunehmend auf die dschihadistische Szene in Deutschland. „Schon jetzt umfasst das islamistisch-terroristische Personenpotenzial nahezu 1600 Islamisten“, sagte Maaßen. Vor einem halben Jahr waren es noch 1000 Personen. Bewährt hat sich nach Einschätzung des Verfassungsschutzes die Telefon-Hotline, die die Behörde für Hinweise auf Islamisten geschaltet hat. Mit 1100 Kontaktaufnahmen habe sich die Zahl der Anrufe 2016 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt, erklärte der Geheimdienst. Die Zahl der unspezifischen Gefährdungshinweise habe sich seit 2013 verdreifacht.

    Sicher hängen die gestiegenen Zahlen auch mit einer größeren Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden und der Öffentlichkeit zusammen. Der Druck von Polizei und Verfassungsschutz auf die Szene ist enorm, die Ermittler wissen, dass die Radikalisierung von jungen Menschen heute schneller verläuft als bei früheren Dschihadisten-Generationen. Das erhöht auch den Druck auf die Sicherheitskräfte, schnell zuzuschlagen. Auch wenn Fälle oftmals noch wichtige Informationen über die Tatverdächtigen fehlen.

    Biografie von Dschihadisten sehr verschieden

    Doch im Kampf gegen Extremismus geht der Blick nicht nur auf die Strafverfolgung. Zwar gibt es in mehreren Bundesländern und von Seiten des Bundes Programme zur Prävention und Deradikalisierung, doch nach Ansicht von LKA-Leiter Heinke fehlt in Deutschland noch immer eine nationale Strategie gegen gewalttätige Extremisten.

    Die Analyse der Biografien von Dschihad-Reisenden aus Deutschland, die Kriminalämter von Bund und Ländern seit mehreren Jahren ausarbeiten, zeigt, wie unterschiedlich die soziale Herkunft, der Bildungsstand oder etwa der kriminelle Hintergrund der Extremisten ist. Auch Unterschiede in der Radikalisierung von Männern und Frauen zeigt diese Analyse. Somit müssten auch Strategien gegen Extremismus sehr individuell ausgearbeitet werden und Bezug auf bestimmte soziale Gruppen nehmen, schreibt Heinke in seinem Aufsatz. Etwa besondere Präventionsprogramme für Frauen in der dschihadistischen Szene.