Berlin. Europa ist im Krisenzustand: Hollande tritt nicht mehr an, Renzi zittert vor dem Referendum und Merkel steht vor der Bewährungsprobe.

Die Märkte sind unruhig. Nicht nur sie. Ganz Europa schaut nach Italien. Sagt das Volk am Sonntag „No“, scheitert mit der Verfassungsreform auch Regierungschef Matteo Renzi. Das Krisenszenario lässt sich unschwer ausmalen, eine Kettenreaktion: Rücktritt, Neuwahl, politische Instabilität, finanzielle Turbulenzen. Nach dem Brexit-Votum wäre es das nächste Vorzeichen für ein Auseinanderbrechen der EU.

Es gibt weitere Warnsignale. Ein Rechtspopulist könnte am Wochenende in Österreich Präsident werden. In Holland wie Frankreich, wo 2017 wie in Deutschland Wahlen anstehen, sind solche Leute auch keine Außenseiter mehr. In Europa könnte es für Kanzlerin Angela Merkel einsam werden; es wird sich anfühlen wie auf einer Eisscholle. Merkels Wahlkampf wird im Zeichen Europas stehen. Jeder Erfolg von Euroskeptikern wird Merkels Quälgeistern von der AfD einen Schub geben.

Präsidentschaftswahl in Österreich

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    Silvio Berlusconi war ein Vorläufer von Donald Trump

    In Italien geht es am Sonntag um das Aufbrechen alter Strukturen. Das Land wäre nicht zum ersten Mal ein Labor für politische Entwicklungen. Silvio Berlusconi war ein Vorläufer von Donald Trump, gleicher Typ, gleiche Macken, gleiche Masche. Es ist nicht einmal fünf Jahre her, dass mit Beppe Grillo ein Komiker bei einer Wahl die Traditionsparteien düpiert hat. Schon damals ging es gegen die Polit-Eliten.

    Populismus ist ein abfälliger Begriff. Es sollte normal sein, auf das Volk zu hören. Des einen Populismus ist des anderen Demokratie. Der pene­trante, mittlerweile europaweite Erfolg populistischer Gruppen ist ein Indikator dafür, dass die etablierten Parteien etwas grundlegend falsch gemacht haben. Es ist keine Revolte gegen die Moderne, sondern gegen bestimmte Auswüchse: Bevormundung und falsch verstandene politische Korrektheit.

    Schicksalswahl für Matteo Renzi

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      Populisten sind ein Katalysator von Unmut

      Unsere „Lasst-mich-mal-machen-Kanzlerin“ ist ein Paradebeispiel dafür. Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise fiel sie durch Berührungsängste zur Realität auf. Mit den Schattenseiten der Migration – Missbrauch des Asylrechts, Probleme bei der Integration – hat sie sich erst offen auseinandergesetzt, als sie unübersehbar geworden waren, nämlich nach der Kölner Silvesternacht.

      Das Unbehagen im Land aber war schon lange vorher zu spüren. Es gilt bis heute, was Kurt Tucholsky Anfang der 30er-Jahre auf unnachahmliche Weise auf den Punkt brachte: „Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“

      Populistische Bewegungen sind ein Katalysator von Unmut, auf ihre Weise setzen sie Themen. Man kann solche Bewegungen schlagen. Gerade am Beispiel von Renzis Radikalkur wird allerdings ein Wettbewerbsnachteil sichtbar: Regieren ist das Bohren dicker Bretter – und Populismus bestenfalls das Trommeln darauf.

      David Cameron hatte ein ähnliches Erlebnis in Großbritannien

      Renzi droht das Schicksal, das David Cameron in Großbritannien ereilte. François Hollande hat schon hingeworfen. Anders als Merkel tritt der Franzose nicht wieder an. Wenn sich für Merkel aus seinem Scheitern und aus Renzis Zitterpartie etwas lernen lässt, dann dies: mehr erklären, mehr kommunizieren, die Bürger einbinden. Die Kanzlerin dürfte das gespürt haben. Nicht zufällig ergriff sie selbst die Initiative für einen „Bürgerdialog“, nicht zufällig streitet die Union über plebiszitäre Elemente, über Volksentscheide.

      Womöglich setzt der Ausweg aus der Sinnkrise in Europa genau das voraus: einen klugen Mix für mehr Bürgerbeteiligung. Wenn die Italiener „No“ sagen, wenn Renzi scheitert, dann an einem grandiosen Missverständnis: Er wollte die Institutionen modernisieren. Er hätte bei der Demokratie ansetzen sollen, bei Willensbildung und Bürgerbeteiligung. Das Volk ist kein Störfaktor.