Am 1. Juli 1990 wird die Währungsunion vollzogen. Ulrich Waller, David Dunster und Wigald Boning bereisen ein untergehendes Land.

Fahrt in die untergehende DDR, quasi als Archäologen des Alltags, und untersucht, was Euch begegnet. Denn bald ist es weg.“ Der neugierige, immer neuen Sachen aufgeschlossene Redakteur des NDR, der viel zu früh gestorbene Horst Königstein, hatte uns diesen Auftrag gegeben. Wir, das waren der englische Architektursoziologe David Dunster, der Comedian Wigald Boning und ich. Zum Startpunkt des Projektes „Der geile Osten“ – so sollte der Film später heißen, konnten wir noch nicht ahnen, dass wir Zeugen der letzten Woche der DDR-Mark und der ersten Woche mit der D-Mark und damit des Systemwechsels werden würden. Der letzte Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, hatte sich das so gewünscht, denn die DDR-Bürger sollten schon im ersten Sommer nach dem Mauerfall mit DM in den Urlaub reisen können.

Die Gewissheit, dass die DM bald kommt, hat Menschen aufgeschreckt

Den Engländer David Dunster hatte sich Königstein gewünscht, um vom hochnäsigen Blick des Westdeutschen auf die Ostdeutschen wegzukommen, Wigald Boning wegen seines mit seiner Naivität kokettierenden Fragesystems, dieser unnachahmlichen Mischung von dreister Behauptung und nachfolgender Frage, mit dem er Menschen die unglaublichsten Dinge entlocken konnte und das er später in RTL-Samstagnacht zur Perfektion vervollkommnete.

Menschen drängen sich in Berlin am Eingang einer Filiale der Deutschen
Bank, in der es bereits um Mitternacht D-Mark gibt
Menschen drängen sich in Berlin am Eingang einer Filiale der Deutschen Bank, in der es bereits um Mitternacht D-Mark gibt © ullstein bild

Die Gewissheit, dass die DM bald kommt, hat die Menschen im Osten aufgeschreckt. Das merken wir schon am Grenzkontrollpunkt Marienborn. Bereitwillig dürfen wir alle Grenzanlagen betreten. Der Ort hat inzwischen jeden Schrecken verloren. David prüft die Bausubstanz der Abfertigungsanlagen und kommt zu der Erkenntnis, dass die DDR wohl selbst nie daran geglaubt haben kann, dass sie längere Zeit Bestand hat, so wie das alles gebaut ist. Alles Plastik oder besser gesagt Plaste.

Einer der fast zu freundlich gewordenen Grenzer spricht bereitwillig über seine Zukunft. Als gelernter Stahlbauschlosser, der seinen Beruf verlernt hat, träumt er davon, einen Imbiss zu errichten im Haus seiner Schwiegermutter. Sein Kollege hofft, dass wenigstens die Kinderkrippen erhalten bleiben von der alten DDR. Mehr fällt ihm zu der Frage, was bleiben soll, nicht ein.

Wir kommen nach Merseburg. Die Luft ist immer noch schlecht durch die nach wie vor heftig produzierende Chemieindustrie in Leuna. Wigald macht sich Sorgen um seine Haut und legt sich auf den Tisch zu einer Kosmetikerin. Er lässt sich das Gesicht eincremen und verwirrt sie mit der Behauptung, dass schon die Haut der Westdeutschen viel besser sei als die der DDR-Bürger. Ob sie das auch schon gehört habe? Das weist sie etwas ungläubig zurück, um dann sofort zuzugeben, dass die Hautpflegemittel doch viel schlechter gewesen seien im Osten. Ihr größter Wunsch ist, bald einmal nach Paris zu fahren, um die besten Lotionen und Cremes kennenzulernen, denn bisher hatte sie nur Kontakt mit Florena, dem einzigen Kosmetikhersteller der DDR.

Kreuz und quer fahren wirdurch diesen untergehenden Staat

Im Kreiskulturhaus ist auch das Standesamt. Für die alten DDR-Insignien, die groß am Ende des Raumes an der Wand hingen, hat keiner mehr Verwendung. Sie sind schon abmontiert. Für 100 DM können wir sie mitnehmen. Auf dem Dachboden zeigt man uns riesige Porträts von Marx und Engels, auch die können wir haben.

David stolpert über einen Trabbi, der vollgeklebt ist mit lauter Stickern. Er versucht herauszufinden, was sie über den Besitzer erzählen. Die Sticker geben darüber Auskunft, wo der Besitzer gerne gewesen wäre oder noch hinreisen möchte und welche Produkte er besitzen möchte. Diesen Wunschzettel hat er sich einfach auf sein Auto geklebt. Im übrigen sei diese Krankheit auch im Westen bekannt, wenn auch nicht so heftig.

Plötzlich entdecken wir auf einem Plakat: Die erste Misswahl der DDR, veranstaltet von der Firma Toopie-Fashion im Neuen Theater in Halle. Wir ändern unsere Pläne und fahren sofort dahin.

Ulrich Waller ist künstlerischer Leiter
des St. Pauli Theaters
Ulrich Waller ist künstlerischer Leiter des St. Pauli Theaters © Bertold Fabricius

Unser Aufnahmeleiter Frankie, ein vor nicht allzu langer Zeit ausgebürgerter DDR-Bürger, der seine Landsleute so gut kennt wie sonst keiner, verschafft uns Zutritt zum Backstage­bereich. Dort stehen wir unter halb ausgezogenen blondierten DDR-Mädchen, die sich aus einem Berg von Jeansmoden die für sie passenden Sachen heraussuchen sollen, dazwischen ein hochnervöser Inspizient, der gleichzeitig auch der Choreograph zu sein scheint, der die Mädchen abwechselnd anschnauzt und zu motivieren versucht.

Frankie benutzt einen Trick, der in diesen Tagen noch öfter funktionieren sollte. Er geht zielstrebig auf den als Verantwortlichen ausgemachten zu und fragt: „Haben Sie unser Fax nicht bekommen?“ Das zieht immer in diesen Tagen, weil es für den damit Angesprochenen eine nicht kalkulierbare Bedrohung darstellt. Wenn man eins hat, müsste man zugeben, dass man es (noch) nicht bedienen kann, wenn man keins hat, darf man das gegenüber einem Mann vom Westfernsehen auch nicht zugeben.

Und wenn man Frankie gegenüber einräumt, eins bekommen zu haben, um sich auf gar keinen Fall diese Blöße zu geben, öffnet das Frankie im wahrsten Sinne Tür und Tor, denn er erfindet jetzt auch noch den Inhalt dieses nie gesendeten Faxes. Also angeblich haben wir eine Drehgenehmigung des westdeutschen Misswahl-Veranstalters für alle Bereiche einschließlich der Bühne. Und bevor noch irgendjemand was sagen kann, steht unser Kameramann mitten unter den sich gerade um Regenschirme drehenden Toopie-Fashion-Mädels. Sehr zum Ärger der Kollegen vom DDR-Staatsfernsehen, die das alles nicht haben und im Zuschauerraum gefangen sind.

Kreuz und quer fahren wir durch diesen untergehenden Staat. Eine ehemalige Jugendsekretärin der FDJ in Leipzig zeigt uns ganz stolz, dass sie sich jetzt zwei Portemonnaies zugelegt hat für das alte und das neue Geld. Sie träumt von einem irischen Pub, das sie in einem ehemaligen FDJ-Haus eröffnen will. Und das Geld dazu hat sie auch schon, woher, das können wir nur ahnen.

In Magdeburg treffen wir Kristin, das erste Mädchen der DDR, das sich für „Penthouse“ ausgezogen hat. Mit uns redet sie züchtig angezogen darüber, dass sie das auch schon in der alten DDR gemacht hat, im Auftrag der Partei. Ein Funktionär habe sie angerufen und dann abholen lassen zu einem Funktionärstreffen im kleinen oder größeren Kreis. Sie sei auch ordentlich dafür bezahlt worden, sie habe sogar eine Arbeitserlaubnis. Nur habe sie darüber nie reden dürfen. Es habe offiziell keine Berufsbezeichnung für das gegeben, was sie mache.

Alle sind im Aufbruch. In dem Trabanten-Ghetto Halle-Neustadt erklärt uns Heike, eine junge alleinerziehende Ökonomiestudentin, die jetzt Managerkurse besucht, ganz cool, sie habe kein Mitleid mit ihren Landsleuten, die ängstlich in die Zukunft blicken: „Wer sich so behandeln lässt, hat selber Schuld und eben Pech gehabt.“

Glücklich: Hans-Joachim
Corsalli war
der erste DDR-Bürger,
der D-Mark
in
Empfang nehmen konnte
Glücklich: Hans-Joachim Corsalli war der erste DDR-Bürger, der D-Mark in Empfang nehmen konnte © ullstein bild

Im Berliner Stadtteil Marzahn-Hellersdorf interviewt Wigald in einem ehemaligen Bauwagen, vollgepackt mit Pornovideos, einen Jungunternehmer, der vom schnellen Geld mit der Lust träumt. Ob er denn alle diese Videos auch selbst gesehen hätte, fragt Wigald ihn, was der Mann glaubhaft bejaht. Mit dem Satz: „Man muss doch wissen, was man den Kunden empfiehlt.“

Es wird gegessen und getrunken, Grillettas, Soljanka und Broiler

Und überall Wessis, die ein Schnäppchen machen wollen, nicht nur mit Betrieben und Häusern, sondern auch mit Autos. Alles, was noch gerade fährt, wird aus dem Westen hierhergeschleppt und zu unglaublichen Preisen verhökert. In der Nähe eines solchen Automarktes treffen wir zwei junge Männer, die ihren Trabant zu einer veritablen Rennpappe aufgerüstet haben und mit Ost-Motorradhelmen in ihrem Auto sitzen und den Motor aufheulen lassen. Wigald befragt sie, wie hoch denn die Durchschnittsgeschwindigkeit bei einem Trabbi-Rennen sei. „60 – 80“ räumen sie ein, um dann auf die Frage ob sie das sexuell erregt, wahrheitsgemäß mit „Nein“ zu antworten.

Dann kommt er, dieser 1. Juli, der Tag der Geldumstellung. Ein Sonntag. Wir landen am Abend vorher im Ferienheim eines Kombinats in Straußberg, östlich von Berlin. Ab 20 Uhr soll es eine große Abschiedsfeier für die DDR-Mark geben. Es gibt Tischkarten. Es wird gegessen und getrunken, Grillettas und Broiler, Soljanka und russische Eier. Ein Kabarettist tritt auf und hält eine gereimte Abschiedsrede, in der er noch einmal abrechnet mit dem Sozialismus, mit den vergangenen 40 Jahren. Um 22 Uhr sind alle schon ziemlich heiter.

Dann greift der Alleinunterhalter zur Gitarre und fängt an, lauter umgetextete Volkslieder zu singen, die alle nur ein Thema haben: „Ostmark ade, scheiden tut weh, aber dein Scheiden macht, dass mir das Herze lacht“, oder „Lasst uns froh und munter sein und uns auf die DM-Mark freu’n, lustig, lustig, trallalalala, morgen ist das Westgeld da ...“. Der Saal grölt jede neue Begrüßungsformel des neuen Geldes lautstark mit und wedelt noch ein letztes Mal mit den alten Scheinen.

Um Mitternacht passiert etwas fast Religiöses. Das Licht wird gelöscht und die Menschen um uns herum ziehen (ich vermute kleine) Scheine aus ihren Portemonnaies und zünden sie an. Sie verbrennen wirklich ihr altes Geld. Leider ist unser Kameramann, etwas angeschlagen von der Feierwut, schon schlafen gegangen und Handys gibt es noch nicht.

Am nächsten Morgen fahren wir nach Ostberlin. Es herrscht eine fast gespenstische Ruhe. Manchmal jaulen die Sirenen der Vopo-Autos in der Nähe, die mit hoher Geschwindigkeit die Panzerwagen mit dem neuen Geld eskortieren. Die Ankunft der neuen Ordnung hat etwas Unheimliches. Vor den Sparkassen lange Schlangen. Die Menschen stehen an, um die 400 DM zu bekommen, auf die sie jetzt sofort ein Anrecht haben. Und alle sind nach Hause gekommen, wie weiland bei der Volkszählung der Römer vor der Geburt Christi. Denn nur auf der heimischen Sparkasse bekommt man die neuen Scheine.

Alles sieht anders aus als zwei Tage zuvor. Und ist natürlich teurer

Die Gesichter sind nicht halb so freudig und erregt wie auf den Bildern, die um Mitternacht aus der Deutsche Bank-Filiale am Alexanderplatz um die Welt gegangen sind. Eher müde und erschöpft. Ich weiß nicht, wie meine Eltern 1948 ausgesehen haben. Wahrscheinlich auch nicht besser.

Montag Morgen in einem Supermarkt in Frankfurt/Oder. Über Nacht ist fast das gesamte Sortiment ausgeräumt worden. Die Menschen laufen durch den Markt wie Fremde. Sie versuchen, Milch zu finden oder Zucker. Alles sieht anders aus als zwei Tage zuvor. Und ist natürlich teurer. Erste Gewinnspiele werden veranstaltet von Lebensmittel-Konzernen aus dem Westen, die ihre schmierigsten Vertreter hierher geschickt haben. Man kann Gläser mit sauren Gurken gewinnen oder gleich einen ganzen Geschenkkorb, in dem vom Senf bis zu Mayonnaise alles drin ist, nach der Parole: „Heute zahlen Sie einmal gar nichts.“ Die Betonung liegt auf „einmal“.

Steffi ist Angestellte in der dortigen Sparkasse, sie ist ganz aufgeregt über den Kontakt mit dem Westgeld. „Es ist schon was anderes, jetzt Geld in den Händen zu haben, das wirklich was wert ist.“ Auch auf die neuen Kollegen, die jetzt aus dem Westen kommen sollen, ist sie neugierig: „Den DDR-Männern fehlt einfach der Charmant“.

Das einzige Hotel in der Stadt ist die ehemalige Parteischule Friedrich Engels. Mühsam hat man auf die alten Speisekarten das Label des Hotels geklebt, das sich aber gerade wieder abzulösen beginnt. Es gibt nur ein Hauptgericht: „Wir haben heute nur Grillettas, wahlweise mit Champignonmasse oder Zigeunermasse“, verkündet der Kellner. Wir interessieren uns für die „Zigeunermasse“, 3,85 DM. „Die haben wir nicht mehr.“

Auf der Galerie stehen ein paarProfessoren und starren auf uns runter

Im Keller des Hotels bekommen wir wieder Devotionalien aus dem Bestand der Parteischule angeboten. Ein irres Verkaufsgespräch entspinnt sich: „Ich würde gerne das Honecker-Porträt kaufen. Was soll er denn kosten?“/„Sagen Sie mal!“/„Ich würde 50 Mark dafür bezahlen.“/„DM?“/„DDR-Mark.“/„Sie wissen, dass das Bild sehr teuer war in der Herstellung.“/„Ja, und was heißt das?“/„Er kostet 70 DM.“/„Dafür kriegen wir aber den Thälmann noch dazu.“/„Mit Thälmann kostet der Honecker 100 DM.“/„Dafür kriegen wir dann aber noch den Marx.“/„Den Marx“, jetzt wird der Mann erregt, „den Marx verkaufen wir nicht.“ Wir erfahren, dass er früher Parteilehrer war und jetzt Haustechniker geworden ist.

Am letzten Tag unserer Reise sind wir im Bauhaus in Dessau. David hatte sich das gewünscht. Wir haben noch mal alle „Plaste und Elaste“-Artikel aus dem DDR-Sortiment eines Kaufhauses auf einen Tisch gelegt, und es ist für Wigald ein Leichtes, Artikel für Artikel zu zerstören. Auf der Galerie stehen ein paar Professoren des Hauses und starren auf uns runter. David erklärt ihnen, warum er so enttäuscht ist: Weil die DDR nichts von dem Erbe angenommen habe, für dass das Bauhaus steht. Und ein System, das keine Ästhetik des Alltags entwickeln konnte – das sei ihm schon an den Grenzhäuschen klar geworden – hatte keine Chance, zu überleben. Auch deshalb sei die DDR untergegangen.