Angesichts des völlig aus dem Ruder laufenden Abzugs der Amerikaner muss man die Frage stellen: Was ist eigentlich mit Joe Biden los?

Die Albtraumszenarien aus Afghanistan werden von Tag zu Tag gruseliger. Nicht nur, dass mit der Machtübernahme der Taliban am Hindukusch wieder das islamische Mittelalter einzieht. Nicht nur, dass herzzerreißende Bilder von verzweifelten Menschen um die Welt gehen, die der Hölle von Kabul entfliehen wollen.

Nun warnt US-Sicherheitsberater Jake Sullivan sogar vor „tödlich ernsten“ Hinweisen über mögliche Anschläge der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) am Flughafen der afghanischen Hauptstadt. Man stelle sich vor: Ein voll besetzter Evakuierungsflieger der Bundeswehr oder der US Air Force wird von einer IS-Rakete abgeschossen. Oder ein Selbstmordattentäter sprengt sich im Gewusel der Flüchtenden in die Luft.

USA ziehen ihre Soldaten überstürzt aus Afghanistan ab

Angesichts des völlig aus dem Ruder laufenden Abzugs der Amerikaner muss man die Frage stellen: Was ist eigentlich mit dem Außenpolitik-Profi Joe Biden los? Der US-Präsident hatte seit seinem Amtsantritt immer wieder intoniert: „Die Vereinigten Staaten sind auf der Weltbühne zurück, Multilateralismus und die Abstimmung mit den Verbündeten stehen ganz oben.“ Der Westen atmete auf und feierte die neue Verlässlichkeit in Washington.

Doch die Wirklichkeit in Afghanistan sieht völlig anders aus. Die USA ziehen ihre Soldaten überstürzt ab und stoßen die Allianzpartner vor den Kopf. Biden legt zuerst den 31. August als in Erz gegossene Frist für die Räumung fest, dann zeigt er sich angesichts der chaotischen Bilder für eine Verlängerung offen. Klar ist: Das desaströse Management des Rückzugs hat dem Präsidenten die Choreografie verhagelt. Sein Plan bestand darin, pünktlich zum 20. Jahrestag der Anschläge vom 11. September 2001 als politischer Saubermann aufzutreten. Botschaft: Das Terrornetzwerk Al-Kaida ist besiegt, die Truppen sind zu Hause. Eine katastrophale Fehleinschätzung.

Biden erleidet einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust

Biden erleidet einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust auf internationaler und auf nationaler Ebene. Der Präsident sitzt in der Afghanistan-Falle. Im Westen muss man sich die Frage stellen, die viele nach der Abwahl von Donald Trump als erledigt betrachteten: Wie sehr kann man sich auf das Wort aus Washington verlassen? Verbündete auf der ganzen Welt kommen ins Grübeln, ob die Treue zur Allianz im Zweifelsfall auch gilt. Die Biden-Doktrin vom Schulterschluss demokratischer Staaten gegen die zunehmend robuster auftretenden autoritären Regime Russland, China oder die Türkei bekommt Risse.

Auch in der Innenpolitik hat Bidens Ruf Kratzer erhalten. Zwar sind 63 Prozent der Amerikaner für den Rückzug aus Afghanistan. Doch 74 Prozent sagen, dass die Operation schlecht eingefädelt worden sei. Addiert man dies zu weiteren Rückschlägen wie dem schleppenden Impftempo in den USA oder dem Gezerre um das billionenschwere Konjunkturpaket, kommt man zu dem Schluss: Der Präsident hat eine gehörige Portion Vertrauensvorschuss aufgebraucht. Das sind beunruhigende Zeichen.

Europa wäre gut beraten, die Afghanistan-Misere als Weckruf zu betrachten

Im November 2022 finden die Zwischenwahlen zum Kongress statt. Verlieren die Demokraten auch nur eine Kammer, wäre Biden praktisch schon zur Halbzeit seiner Amtsperiode eine „lame duck“. Das Risiko, dass bei den Präsidentschaftswahlen 2024 wieder ein Neo-Trumpist im Weißen Haus sitzt, ist jedenfalls da.

Europa wäre gut beraten, die Afghanistan-Misere als Weckruf zu betrachten. Die USA bleiben zwar als transatlantischer Partner grundsätzlich wichtig. Aber die EU muss stärker werden: als politischer, als wirtschaftlicher – und als militärischer Akteur. Einsätze wie die Evakuierung von eigenem Personal und von Ortskräften in Afghanistan sollte die Gemeinschaft künftig auch allein stemmen können.