Berlin. Borowski ermittelt im „Tatort“ im Fall um einen getöteten Reformpädagogen. Diese Parallelen gibt es zwischen Realität und Fiktion.
Ein unheimlicher Hund, ein mysteriöser Indianer, ein geheimnisvolles Segelschiff – im „Tatort: Borowski und das Haus am Meer“ haben die Kieler Kommissare Klaus Borowski (Axel Milberg) und Mila Sahin (Almila Bagriacik) mit nahezu traumhaften Begegnungen zu tun. Ihr Fall entpuppt sich als düsteres Familiendrama, in dem das dänische reformpädagogische Projekt um „Ulydighed“ eine große Rolle spielt.
Aber hat es „Ulydighed“ wirklich gegeben? Was hat es mit dem dazugehörigen Internat „Arken“ auf sich? Und muss einem der Name des Toten, Heinrich Flemming, etwas sagen? Wir beantworten die wichtigsten Fragen.
„Tatort“: Gab es das reformpädagogische Konzept „Ulydighed“ wirklich?
Jein. „Ulydighed“ – übrigens das dänische Wort für Ungehorsam – ist kein real existierendes reformpädagogisches Konzept, sondern eine Erfindung für den Kieler „Tatort“. Allerdings hat Drehbuchautor Niki Stein es stark an ein alternatives Schulsystem angelehnt, das in den 1970er Jahren in Dänemark gegründet wurde: Tvind.
Was hat der Tote aus dem „Tatort“, Heinrich Flemming, mit Tvind zu tun?
„Tatort“-Regisseur Niki Stein sagt selbst, er habe sich bei der Figur Heinrich Flemming am Tvind-Gründer Mogens Amdi Petersen orientiert. Der Zuschauer erfährt über Heinrich, dass sein Vater ein grauenvoller Kriegsverbrecher war und er sich bei der reformpädagogischen Bewegung engagiert, um sich von seinem Nazi-Vater abzugrenzen.
Er will Kinder in freier Selbstbestimmung erziehen, statt sie zu willigen Vollstreckern einer menschenverachtenden Ideologie heranzubilden – aber er überzieht es. Er zwingt die Kinder zu einer Freiheit, die sie nicht wollen: Verzicht auf Fürsorge, elterliche Bindung, das Setzen von Grenzen. Letztendlich nötigt er sie sogar zu einer fragwürdigen Freiheit in der Entwicklung ihrer Sexualität.
Auch Mogens Amdi Petersen ist eine zwielichtige Person, anders jedoch als die Figur Flemming. Über den Reformpädagogen Petersen ist bekannt, dass er die Tvind-Bewegung maßgeblich prägte und sich selbst als einfache Person mit simplem Geschmack, als verarmten Weltverbesserer, beschreibt. Die Wahrheit ist aber wohl eher, dass er ein Betrüger war, der auf Kosten der Armen seinen Reichtum ausbaute.
„Tatort“- Segelschiff und Indianer – Borowskis neuer Fall
Wie dänische Medien anlässlich seines 80. Geburtstags anfang dieses Jahres berichteten, wurden ihm Ende der 1970er Jahre Betrug und Steuerhinterziehung vorgeworfen, daher ging er für 22 Jahre in den Untergrund, bis er in den USA gefunden und an Dänemark ausgeliefert wurde.
Im Prozess wurde er zwar zunächst freigesprochen. Als das Verfahren 2006 wieder aufgenommen wurde, setzte er sich erneut ins Ausland ab. Seither ist Petersen verschwunden und wird von Interpol gesucht. Es wird vermutet, dass Petersen heute in Mexiko lebt.
Ehemalige Wegbegleiter beschreiben ihn als charismatischen – fast verführerischen – Anführer, jemanden mit unberechenbarem Temperament, dessen Stimmung innerhalb kürzester Zeit von Freude zu Wut umschlagen konnte.
Welche Parallelen gibt es zwischen „Ulydighed“ und Tvind?
- Die Gründung: Sowohl das fiktive Konzept „Ulydighed“ als auch das real existierende freie Schulsystem Tvind wurden in den 1970er Jahren in Dänemark gegründet. Tvind kaufte einen Bauernhof, der zur Schule umgebaut wurde. Die Reformpädagogik von „Ulydighed“ kam an einem Internat zum Einsatz, das „Arken“ hieß. „Arken“ ist dänisch und bedeutet auf Deutsch „Arche“.
- Skandale: Im „Tatort“ berichtet Kommissarin Sahin ihrem Kollegen Borowski von einem Skandal bei „Ulydighed“, bei dem Schüler mitten in der Wildnis ausgesetzt worden seien, Hunderte Kilometer entfernt von der Schule, irgendwo in Schottland oder in den norwegischen Lofoten, um selbst wieder zurück zu finden. Auch bei Tvind hatte es einen solchen Skandal gegeben. Dabei sollten Schüler von einer Reise in Irland selbstständig nach Hause trampen.
- Schließung der Schule: Unter anderem der Skandal um die in der Wildnis ausgesetzten Schüler führte im „Tatort“ Mitte der 1990er Jahre zur Schließung des Internats „Arken“. Die real existierenden Tvind-Schulen erfuhren ebenfalls Mitte der 90er einen entscheidenden Einschnitt. Ihnen wurde der staatliche Zuschuss entzogen. Fast alle Tvind-Schulen wurden aber mit weniger Schülern und geringeren finanziellen Mitteln weitergeführt.
Gibt es auch beim Segelschiff „Arken“ eine Parallele zur Realität?
Ja, zumindest eine kleine. Inga Andersen ist im „Tatort“ die Geliebte des Toten und Mitbegründerin der reformpädagogischen Bewegung. Seit der Schließung des Internats „Arken“ lebte sie gemeinsam mit ihrer Tochter und ein paar als schwierig geltenden Jugendlichen, um die sie sich kümmert, auf dem Segelschiff „Arken“. Heinrich Flemming lebte bis zu seiner Demenz-Erkrankung offenbar mit ihr auf dem Schiff.
Auch in der Realität spielte ein Schiff eine gewisse Rolle, wie der „Guardian“ 2003 in einem Artikel über den Tvind-Gründer Mogens Amdi Petersen berichtet. Als Petersen sich Ende der 70er Jahre in den Untergrund zurückzog, kaufte er sich gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin Kirsten Larsen ein Segelschiff – oder besser: eine Segel-Yacht, die Luxus-Yacht „Butterfly McQueen“.
Bei der „Butterfly McQueen“, die in Dänemark gebaut wurde, handelt es sich um die damals weltgrößte Hochsee-Luxusyacht aus Glasfasern.
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Das „Tatort“-Jahr neigt sich dem Ende zu, doch auch 2020 wird es wieder spannend – unter anderem mit neuem Schweiger und zweimal Münster. Der erste „Tatort“ 2020, eine Neujahrs-Ausgabe, wird experimentell – mit Ermittlern aus Münster und Dortmund. Till Schweigers neuer „Tatort“ kommt nach Angaben des Schauspielers mit „ganz wenig Toten“ aus. Er wird am 5. Januar ausgestrahlt. Ein Wiedersehen mit dem „Tatort“ aus Luzern wird es aber nicht geben, lesen Sie hier, warum er endet und wie es weitergeht.