Essen. Eine Arte-Doku über Lee Miller zeigt eine schwer einzuschätzende Frau. Die Macher sammelten kluge Statements, um sie zu entschlüsseln.

Als Elizabeth „Lee“ Miller, verheiratete Lady Penrose, 70-jährig in Chiddingly (Sussex, England) starb, hatte der amerikanische Fotojournalist David Scherman ein Problem. Der Nachruf, den er 1977 für das Magazin „Vogue“ auf seine ehemalige Kollegin schreiben wollte, musste einem halben Dutzend unterschiedlicher, widersprüchlicher Leben gerecht werden, die alle von ein und derselben Frau geführt worden waren.

Zwei dieser Leben sind im Titel der britischen Dokumentation angeführt: „Lee Miller – Supermodel und Kriegsfotografin“. Doch die aus dem Provinzstädtchen Poughkeepsie (Bundesstaat New York) stammende Lee Miller, die heute wegen ihrer Bilddokumente über die Bombardierung Londons und die Invasion der Alliierten bis hin zur Befreiung des Konzentrationslagers Dachau als eine der wichtigsten Fotografinnen des 20. Jahrhunderts gefeiert wird, war mehr.

Elisabeth Miller: Tragisches Opfer der Traumata

Mehr auch als eine Claudia Schiffer oder Naomi Campbell der 20er und 30er Jahre. Sie war Künstlermuse (Man Ray) und eigenständige Foto-Künstlerin, war als Objekt Ausgebeutete und als handelndes Subjekt Nutznießerin; sie war eine emanzipierte, sprunghafte Freidenkerin, die sich nie dafür entschuldigte zu sein, wie sie war. Lesen Sie hier: Fotografen: Künstler und Handwerker in einer Person

Und ab irgendeinem Punkt wurde Lee Miller tragisches Opfer ihrer wohl schon seit Kindertagen erlittenen Traumata, die sie in der Massierung nicht länger verarbeiten konnte. Sie wollte, zumal nach den unauslöschlichen Schreckensbildern von Dachau, nur noch vergessen, verdrängen. Elizabeth Lee Miller kapselte sich ab, versuchte 30 Jahre lang, jede Erinnerung an das Zurückliegende auszumerzen.

Kriegsbilder und Modefotos auf dem Dachboden gefunden

Bezeichnend, und zutiefst erschreckend, ist das Eingeständnis ihres Sohnes Antony Penrose, vom Tod der Mutter (da war er 28) kaum berührt gewesen zu sein. Bis dahin hatte er Lee, die 1947 den englischen Surrealisten Roland Penrose geheiratet hatte, nur als gefühllose Mutter, als verschlossene, untätige Trinkerin und Hysterikerin erlebt.

Die Werke von Lee Miller werden 2020 in unterschiedlichen Museen gezeigt. Hier eine Ausstellung in Erfurt.
Die Werke von Lee Miller werden 2020 in unterschiedlichen Museen gezeigt. Hier eine Ausstellung in Erfurt. © dpa | Martin Schutt

Antonys Empfindungen änderten sich erst Jahre später, als seine Frau auf dem Dachboden zufällig auf Kisten und Kästen stieß, in denen Lee Miller schriftliche und fotografische Belege ihrer vielen Leben entsorgt hatte. Darunter, neben ihren Kriegsbildern und Modefotos für die Vogue, auch ästhetische, technisch hochwertige Stereo-Aufnahmen, die der hobbyfotografierende Vater von ihr gemacht hatte und die nicht nur aus heutiger Sicht ziemlich bedenklich sind. Auch interessant: So schlimm ist die Situation von Mädchen weltweit

Antony Penrose versucht sich der fremden Mutter anzunähern

Der Versuch von Antony Penrose, dieses verstörende Konvolut zu erschließen, sich als zunächst rein sachlicher, dann zusehends emotionaler werdender Biograf der fremden Mutter anzunähern, bildet die Grundlage der Dokumentation.

Historisches Bild- und Filmmaterial, kluge und kontroverse Stellungnahmen von Journalisten, Fotografen, von Freunden und Familienangehörigen fügen sich zu dem eindrucksvollen, aber noch immer verrätselten Bild einer modernen, außergewöhnlichen Frau voller Widersprüche und Geheimnisse, die „immer lieber anderswohin“ wollte und nie irgendwo wirklich ankam.

  • Sonntag, 30. August 2020, 22.10 Uhr, arte: „Lee Miller – Supermodel und Kriegsfotografin“