Essen. Am Jugenddrama „LOMO – The Language of Many Others“ beeindruckt nicht nur die radikale Ästhetik, sondern am Ende auch die Spannung.

„Es gibt zwei Zustände im Leben: Bewusstlosigkeit oder Panik“, sagt Karl in seinem Blog LOMO. „Aber keine Angst: Sobald du ohnmächtig wirst, atmest du wieder normal.“

Mit seinen 17 Jahren steht Karl (Jonas Dassler) nicht nur kurz vor dem Abitur, und also vor einem neuen Abschnitt seines Lebens, an dem gemeinhin Zukunft entschieden wird. Er befindet sich auch mittendrin in dem beschriebenen Zustand, den man vor wenigen Generationen wohl noch so etwas wie „juvenile Seelenverwirrung“ genannt hätte.

Im 21. Jahrhundert aber heißt die Frage, die Teenager in einer existenziellen Identitätskrise umtreibt, nicht mehr nur: Wer bin ich? Sondern auch: Wo kann ich zwischen den sieben Milliarden Menschen, die auf der Erde bereits existieren, noch den eigenen Platz finden?

„LOMO – The Language of Many Others“

Heute, so lehrt es die alltägliche Online-Erfahrung, hängt alles mit allem zusammen. Google und Wikipedia beantworten selbst letzte Ungewissheiten. Eine eigene Rolle in dieser Welt zu finden scheint umso komplizierter: Obwohl Karl von Hause aus alle Möglichkeiten hat, weiß er nicht, was er damit anfangen soll…

Karl (Jonas Dassler) überlässt in ­„LOMO – The Language of Many Others“ seinen Followern die Entscheidungen über sein Leben.
Karl (Jonas Dassler) überlässt in ­„LOMO – The Language of Many Others“ seinen Followern die Entscheidungen über sein Leben. © rbb/Flare Film/Michal Grabowsky | Handout

Das Coming-of-Age-Drama ­„LOMO – The Language of Many Others“, das das Erste am Dienstagabend (22.45 Uhr) zeigt, erzählt sehr geschickt und zeitgemäß von der Verschiebung der Eigenwahrnehmung durch die angeblich schier endlosen Möglichkeiten einer digitalisierten Welt. Zugleich ist der Film von Julia Langhof ein grandioses Spielfilmdebüt: Es stellt das emotionale Wechselbad heutiger Jugendlicher in ein packendes, konsequent erzähltes ­Drama. Und bedient sich dabei ­(gemeinsam mit Kameramann Michal Grabowski) einer Ästhetik, die die so genannten Digital Natives selbst nutzen: Große Teile finden sozusagen online statt – erzählt im Blog von LOMO.

Anfangs ist diese Optik, in der Aufnahmen aus der „realen Welt“ immerzu unmerklich mit Screen-Bildern überlagert werden, etwas gewöhnungsbedürftig, für Zuschauer jenseits der 20 zumindest. Bald aber wird klar: Alles, was Karl in seinem Alltag erlebt, filmt sein Handy. Die Episoden postet er als kleine filmische Kunstwerke in seinem Blog – nicht einfach eins zu eins, sondern eingebunden in den großen Welt­zusammenhang.

Coming-of-Age-Drama wird zum Cyber-Thriller

Die globale Community dankt ihm mit fortlaufenden Kommentaren, die wie ein fernes Echo sein Leben ständig begleiten. Dabei kennen ihn seine Follower besser als er sich selbst, greifen, wenn nötig, sogar in sein reales Leben ein – und treiben mit überraschenden Wendungen die Geschichte immer weiter voran.

Die Möglichkeiten der Technik sind es auch, die eine Interaktion zwischen den Generationen schwierig machen – die Eltern sind gar nicht mehr in der Lage, sie zu durchschauen. Oder wissen sie schlicht nicht, wie ihre verstockten Kinder ticken, weil sie viel zu sehr mit sich selbst und ihren eigenen Zielen beschäftigt sind?

Intimität zwischen den gleichaltrigen Freunden wiederum findet – wie online – nur in Chiffren statt. Direkte Gefühlsäußerungen sind verpönt. Nähe, Bindungswünsche gar, führen sofort zu Panikreaktionen. Und zur Katastrophe: Karl, wütend, frustriert und betrunken, postet ein Video, das ihn und seine Freundin beim ersten Sex zeigt. Von nun an eskaliert das Coming-of-Age-Drama zu einem echten Cyber-Thriller.

• Dienstag, 25. August 2020, 22.45 Uhr, Das Erste: ­„LOMO – The Language of Many Others“