Berlin. Die Politik lockert die Corona-Regeln, dennoch gehen Tausende auf die Straßen. Die Corona-Demos sorgten bei Anne Will für Zündstoff.

Karl Lauterbach ist so etwas wie das Gesicht der Corona-Krise. Egal, in welcher Talkshow: Wenn es um die Pandemie geht, ist der SPD-Mann meistens nicht fern. Im Wochentakt referiert Lauterbach die Ergebnisse neuester wissenschaftlicher Studien, erklärt epidemiologische Kennziffern und warnt vor zu schnellen Lockerungen.

So auch am Sonntagabend bei Anne Will. „Corona-Einschränkungen – waren und sind die Grundrechtseingriffe verhältnismäßig?“, lautete dort die Frage.

Und schon der Titel der Sendung zeigte, dass sich etwas in der öffentlichen Debatte gedreht hat. Es geht nicht mehr nur um medizinische Notwendigkeiten. Immer öfter taucht jetzt der Begriff der Verhältnismäßigkeit auf – also ob das, was die Politik mit dem „Lockdown“ beschlossen hat, auch wirklich notwendig war.

Für Gesundheitswissenschaftler Karl Lauterbach ist die Sache klar: Die Beschränkungen, sagte er bei Anne Will, hätten sogar noch länger durchgehalten werden müssen. „Danach hätten wir großzügiger lockern können.“

„Anne Will“: Karl Lauterbach für längere Beschränkungen

Die Realität ist darüber hinweggegangen. Und auch die andere Seite hat gute Argumente. In Anne Wills Runde saß mit der ehemaligen Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) eine profilierte Rechtspolitikerin, eine Verteidigerin der Grundrechte.

In den ersten Wochen der Pandemie habe der Staat angemessen gehandelt, so die Juristin. Es gebe jetzt aber Hygiene- und Schutzkonzepte. Damit sei auch die Begründung da, Einschränkungen zurückzunehmen.

Die ehemalige liberale Ministerin argumentierte sachlich, ausgewogen und versöhnlich im Ton – anders als FDP-Vize Wolfgang Kubicki, der eine Woche zuvor einen polternden Auftritt bei „Anne Will“ hingelegt hatte.

„Anne Will“: Journalist warnt vor rechten Gruppen bei Corona-Demos

Auch wenn die Mehrheit der Deutschen noch hinter den Corona-Beschränkungen steht: Der Anteil derer, die unzufrieden sind, wächst. Ganz deutlich zeigt sich das bei den zahlreichen Demonstrationen, die in vielen deutschen Städten regelmäßig stattfinden und die Politik vor neue Herausforderungen stellen. Interessant ist, dass die Proteste aufflammten, als die Corona-Beschränkungen zurückgenommen wurden.

Der Investigativ-Journalist Olaf Sundermeyer warnte vor rechten Gruppen, die dort das Kommando übernehmen. Um den Schutz der Grundrechte gehe es dabei nur am Rande. Inzwischen fürchten auch Sicherheitsexperten, dass sich Rechtsextreme an die Spitze des Protests stellen könnten. Hintergrund: Werden die Corona-Proteste von Rechten unterwandert?

Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht mit eigenwilliger Deutung

Die Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht hielt das nicht davon ab, bei Anne Will die Proteste in ihrem Sinne zu deuten. Die Politik der Regierung sei ungerecht, viele Menschen stünden vor den Trümmern ihrer Existenz – und seien nun auf der Straße. Journalist Sundermeyer ließ die Ausführungen kühl abtropfen. „Es sind nicht die Taxifahrer und Gastronomiebeschäftigten, die da demonstrieren“, sagte er.

Der Tübinger Medienwissenschaflter Bernhard Pörksen stellte die Proteste in eine Reihe mit den Demonstrationen gegen Flüchtlinge und fürs Klima. „Wir erleben in relativ kurzer Zeit die dritte Polarisierungswelle“, sagte er. Die Demonstranten pauschal abzustempeln, sei falsch. „Wir wissen zu wenig“, so der Wissenschaftler.

Anne Will und ihre Gäste am Sonntag (von links vorne im Uhrzeigersinn): Journalist Olaf Sundermeyer, Sahra Wagenknecht (Die Linke), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Anne Will, Karl Lauterbach (SPD), Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (nicht im Bild).
Anne Will und ihre Gäste am Sonntag (von links vorne im Uhrzeigersinn): Journalist Olaf Sundermeyer, Sahra Wagenknecht (Die Linke), Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), Anne Will, Karl Lauterbach (SPD), Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen (nicht im Bild). © NDR/Wolfgang Borrs | NDR/Wolfgang Borrs

Mit Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) hat sich am Wochenende auch erstmals ein Spitzenpolitiker unter den Demonstrierenden umgehört – ohne Maske und ohne Sicherheitsabstand. „Ich wäre da nie hingegangen“, ärgerte sich SPD-Mann Lauterbach. Seine Solidarität gelte den Menschen, die sich an die Beschränkungen hielten.

Und auch die ehemalige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger warnte vor zu viel Nähe. „Mir stehen die Nackenhaare zu Berge, wenn ich sehe, wie die Grundrechte benutzt werden für andere Ziele“, sagte sie – eine Anspielung auf Impfgegner, Esoterikerinnen und Verschwörungstheoretiker, die den Charakter vieler Demos prägen.

„Anne Will“: Die Krise schlägt auch ökonomisch durch

SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach schob hinterher, dass Deutschland bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen sei. Sowohl medizinisch als auch ökonomisch. Für Demonstrationen, so der unterschwellige Subtext, gebe es da doch gar keine Notwendigkeit. Doch zumindest Lauterbachs Einschätzung, dass die Bundesrepublik mit einem blauen Auge davonkommt, könnte schon bald widerlegt sein.

Die wirtschaftlichen Parameter zeigen allesamt nach unten: Für zehn Millionen Menschen ist Kurzarbeit angemeldet, die Steuereinnahmen brechen weg, für das laufende Jahr rechnet Finanzminister Olaf Scholz (SPD) mit einem Steuerloch von 81,5 Milliarden Euro, und auch auf dem Arbeitsmarkt hat die Krise erste Spuren hinterlassen.

Corona-Talk bei Anne Will: Schwindet die Akzeptanz in der Bevölkerung?

Wie lange hält also die grundsätzliche Akzeptanz der Maßnahmen an, wenn die Schäden immer offenkundiger werden – treibt es dann noch mehr Menschen auf die Straße? Eine Frage, die naturgemäß schwierig zu beantworten ist.

Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen diagnostizierte, schon jetzt sei eine gewisse „Corona-Müdigkeit“ da. In den nächsten Wochen und Monaten werde die Politik wohl zunehmend um Akzeptanz kämpfen müssen.

Für die Mahner und Warner, die bei Lockerungen weiter auf die Bremse treten, dürfte es dann noch schwerer werden, mit ihrer Position durchzudringen. Karl Lauterbach kann sich schon jetzt auf weitere Talkshow-Auftritte einstellen.

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