Berlin. Für die Jugendlichen im „Tatort“ Ludwigshafen scheint das Leben nur ein Spiel zu sein. Der Kriminalfall stellt eine wichtige Frage.

Es ist ein Krimi wie ein anklagender Zeigefinger: „Leonessa“ führt den Zuschauer an den Rand von Ludwigshafen, dorthin, wo die Häuser hoch und die Aufstiegschancen klein sind. Dort befindet sich die beliebte und etwas heruntergekommene Westernkneipe von Hanne und Hans Schilling.

Letzterer hat ein allzu waches Auge auf die Geschehnisse im Viertel und mischt sich auch ein, wenn er etwas Illegales beobachtet. Eines Morgens wird Schilling hinter seinem Tresen erschossen und ins Visier von Lena Odenthal und Johanna Stern geraten drei Jugendliche – Samir, Leon und Vanessa.

Ist der Wirt ihnen lästig geworden, weil er wusste, dass die 15-jährige Vanessa und der gerade mal ein Jahr ältere Leon sich prostituieren? Und warum brauchte ihr Freund Samir, der die Leiche fand, so lange um die Polizei zu rufen?

Der 70. Fall von Lena Odenthal zeigt resignierte Erwachsene und Jugendliche, die ohne Träume zu tickenden Zeitbomben geworden sind. Die ihren Körper verkaufen, um sich billigen Wodka und teure Designer-Klamotten zu leisten. Vier Gründe, warum die neue Folge aus Ludwigshafen wirklich sehenswert war.

1. Diese „Tatort“-Episode verwebt den Kriminalfall mit Gesellschaftskritik, ohne dabei platt zu wirken

Der Auftrag des „Tatorts“, gesellschaftlich relevante Fragen zu behandeln und Stellung zu nehmen, wird nicht immer erfolgreich umgesetzt. So wirkte beispielsweise die Kritik am modernen Menschenhandel im Rotlicht-Milieu in der letzten Hamburger Episode des Sonntagskrimis lieblos aufgedrückt und nicht zu Ende gedacht.

In „Leonessa“ ist das anders: Das Drehbuch von Wolfgang Stauch und die Umsetzung durch Regisseurin Connie Walther setzen sich intensiv mit Eltern auseinander, denen alles egal ist, und ihren Kindern, die an der daraus entstandenen Freiheit scheitern.

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    Als die Kommissarin Vanessas Mutter mitteilt, dass ihre Tochter auf den Strich gehe, antwortet die nur achselzuckend: „Ja und was soll ich da jetzt machen?“ Die Frau hat keine Lust sich einzumischen – ihre Tochter wohne ja eh nur noch zuhause, weil sie hier keine Miete zahlen müsse und es etwas zu Essen gäbe.

    Leons Mutter kann ihren Sohn dagegen gar nicht kontrollieren. Sie ist Alkoholikerin und verbringt den Tag entweder zugedröhnt oder auf dem Sofa schlafend.

    Der „Tatort“ zeigt schonungslos, wie Kindesverwahrlosung sich im Jugendalter fortsetzen kann. Und was passiert, wenn nicht nur die Eltern, sondern das gesamte Umfeld wegschaut: Kneipenwirtin Hanne Schilling kümmert sich zum Beispiel nicht darum, dass eine Fünfzehnjährige ihren Gin und Tonic mit einem durch Blowjobs verdienten Hunderter bezahlt: „Besser sie trinken bei uns eine Kleinigkeit, als draußen rumzuhängen und sich irgendwelche Drogen reinzuziehen“, sagt sie abgebrüht.

    2. Der „Tatort“ aus Ludwigshafen ist bewegend, schafft es jedoch, nicht ins Sentimentale abzugleiten

    Die Ermittlungen in den fiktiven alkohol-getränkten Abgründen des Hochhausstadtteils Oggersheim gehen den Kommissarinnen sichtbar nah. Das merkt man auch an den Streitereien zwischen den Ermittlerinnen, die immer wieder aufkeimen. Odenthal und Stern diskutieren über das richtige Vorgehen beim Ermitteln und Verhindern von Straftaten. Sollte man den Freier von Vanessa nicht in flagranti aus dem Auto ziehen oder Abwarten, damit man auch Leon erwischt?

    Als Zuschauer hat man von Anfang an Mitleid mit den jugendlichen Protagonisten, die sich treiben lassen, und glauben, dass es niemanden etwas angeht, was sie dabei so machen. Der „Tatort“ lässt einen aber keinesfalls darüber hinwegsehen, dass es Vanessa und Leon ziemlich egal ist, dass sie sich privat über eine Website prostituieren, die für Menschen mit „Geld, Manieren und Geschmack“ ist, wie es ein Freier formuliert.

    Nicht nur Odenthal und Stern entwickeln also Mitgefühl, sondern auch das Publikum. Doch sowohl dem Ermittler-Duo als auch dem Zuschauer zuhause vorm Fernseher fällt es schwer, daraus überhaupt eine tiefere Verbindung zu den Verdächtigen aufzubauen. Alles scheint an ihnen abzuperlen. Und das ist auch gut so – denn es bewahrt den „Tatort“ davor, eine sentimentale Erzählung zu sein.

    3. Lena Urzendowsky und Michelangelo Fortuzzi sind die heimlichen Stars des „Tatorts“

    Gleichgültigkeit und Zorn als Schauspieler gleichzeitig unter einen Hut zu bringen, ohne jeweils das eine oder andere als Fassade wirken zu lassen, ist gar nicht so leicht. Lena Urzendowsky und Michelangelo Fortuzzi, die Vanessa und Leon in dieser „Tatort“-Folge spielen, gelingt es aber so gekonnt, dass sie selbst neben der immer spannungsgeladenen Ulrike Folkerts herausstechen.

    Die beiden spielen selbstbewusst und ausdrucksstark, mit Gesichtsausdrücken, die jedem Erwachsenen, der ihnen wie Kneipenwirt Schilling oder Lena Odenthal in die Quere kommt, sagen: Es interessiert mich nicht. Verzieh dich.

    4. Der „Tatort“ stellt eine wichtige Frage: Was ist Unabhängigkeit?

    Nicht nur Vanessa und Leon träumen von Unabhängigkeit und Freiheit. Tut das nicht jeder in dem Alter? Vanessas Eltern und Leons Mutter haben resigniert, die Kontrolle über ihre Kinder haben sie nicht mehr. Die Jugendlichen sehen sich jedoch längst mit der Frage konfrontiert, ob das wirklich das ist, wovon sie einst geträumt haben.

    Denn ihre scheinbare Unabhängigkeit hat einen hohen Preis – die zahllosen Hundert- und Fünfzig-Euro-Scheine, die Vanessa in einer kindlich verzierten Dose aufbewahrt, sind das Ergebnis illegaler Sexarbeit einer Minderjährigen. Davon kann man sich Alkohol und teure Klamotten leisten – aber keine wirkliche Freiheit.

    „I am a lost boy“, sagt Leon zu Lena Odenthal. Und das trifft wohl auf beide Jugendlichen zu. Sie mit ihrem fast schneeweißem Topfschnitt und ellenlangen falschen Wimpern, er mit demonstrativ ins Gesicht hängenden Haaren und stets einem gefüllten Flachmann in der Hand. Sie haben nicht nur ihre Träume, sondern sich selbst in der Freiheit ihrer Verwahrlosung verloren.

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    Der „Tatort“ aus Freiburg war besonders düster und derb. Die Kommissare ermittelten vor ungewohnter Kulisse. Im Nürnberger „Tatort“ ging es jüngst um unerfüllte Liebe. Außerdem: Der „Tatort“-Schauspieler Wotan Wilke Möhring ist wieder Single und Corinna Harfouch wird neue Kommissarin im „Tatort“ Berlin. „tatort“-schauspieler wotan wilke möhring ist wieder single „tatort“-schauspieler wotan wilke möhring ist wieder single „tatort“-schauspieler wotan wilke möhring ist wieder single „tatort“-schauspieler wotan wilke möhring ist wieder single „tatort“-schauspieler wotan wilke möhring ist wieder single