Hamburg. Die bisherige TV-Landschaft wird es nicht mehr lange so geben. Dienste wie Netflix wissen über die Vorlieben ihrer Kunden fast alles.

Gregg Peters steht im Meta Haus in Berlin-Charlottenburg und schwärmt von den 250 Millionen Profilen, die sein Arbeitgeber gesammelt hat. Der elegant gekleidete Amerikaner arbeitet nicht für die Polizei oder einen Geheimdienst. Er steht auch nicht in Diensten von Facebook oder eines anderen Social-Media-Anbieters. Peters ist Chief Product Officer von Netflix, einer Firma, die man eher mit Filmen, Serien und Unterhaltung verbindet als mit Datensammelwut.

Doch das ist ein Irrtum. Netflix weiß über das Nutzungsverhalten seiner Kunden so ziemlich alles. Und das Unternehmen aus dem kalifornischen Los Gatos hat auch keinerlei Scheu, mit diesem Wissen zu prahlen. In seinem kürzlich erschienenen Binge Report erwähnt Netflix einen Mexikaner, der sich 365 Tage hintereinander den ersten Teil von „Fluch der Karibik“ anschaute, einen Briten, der 357 Mal am Stück „Bee Movie“ sah, und einen deutschen Abonnenten, der 340 Mal „Ocean’s Eleven“ guckte.

Netflix hat weltweit 109 Millionen Abonnenten

Da ist es nicht erstaunlich, dass Netflix-Manager Peters auf seinem Pressetermin in Berlin auch die 250 Millionen Profile erwähnt, obwohl es an diesem Tag im Dezember um ein anderes Thema gehen soll: um die neuesten TV-Technikstandards wie Dolby Atmos und HDR, die – selbstverständlich – von zahlreichen Netflix-Serien unterstützt werden. Dazu gibt es eine Information mit dem etwas irreführenden Titel „Lang lebe das Fernsehen – Die Zukunft der Unterhaltung findet im Wohnzimmer statt“. Das klingt, als sei die Firma aus dem Silicon Valley ein normaler TV-Kanal. Nichts könnte falscher sein: Tatsächlich verhält sich Netflix im Vergleich zu herkömmlichen Sendern wie RTL, ProSieben oder ZDF wie ein Tesla Model X zu einem Trabbi.

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    Die Online-Video-Plattform mit ihren weltweit 109 Millionen Abonnenten und einem Börsenwert von mehr als 68 Milliarden Euro verändert gerade die TV-Welt grundlegend. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass es die Fernsehlandschaft so, wie wir sie heute kennen, nicht mehr lange geben wird. „Netflix kommt den Nutzungsgewohnheiten junger Zielgruppen entgegen, die selbst entscheiden wollen, wann sie einen Film oder eine Serie sehen wollen“, sagt der Medienwissenschaftler Stephan Weichert. „Die meisten von ihnen haben noch nicht mal einen Fernseher. Sie nutzen ausschließlich Mediatheken und Online-Plattformen.“

    226 Minuten sieht ein Deutscher pro Tag in Durchschnitt fern

    Was da auf die TV-Branche zukommt, lässt sich bereits heute erahnen. Zwar ist die herkömmliche tägliche Fernsehnutzung mit 226 Minuten in Deutschland immer noch sehr hoch, doch in der Zielgruppe der 14- bis 29-Jährigen liegt sie schon jetzt nur noch bei 110 Minuten. Wer in Deutschland viel fernsieht, ist in der Regel sehr alt. Und er ist, wie es der scheidende Vorstandsvorsitzende von ProSiebenSat.1, Thomas Ebeling, zynisch formulierte, „ein bisschen fettleibig“ und „ein bisschen arm“.

    Der langjährige ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling verlässt im Februar 2018 vorzeitig den Medienkonzern.
    Der langjährige ProSiebenSat.1-Chef Thomas Ebeling verlässt im Februar 2018 vorzeitig den Medienkonzern. © dpa | Sven Hoppe

    Diese für den Chef eines TV-Konzerns ein bisschen ungewöhnliche Charakterisierung des eigenen Publikums zeigt, dass angesichts des Siegeszugs von Netflix und anderer Online-Plattformen schon jetzt bei manch herkömmlichem TV-Sender die Nerven blank liegen. Das Zitat fiel auf einer Konferenz mit Finanzanalysten, auf der Ebeling mit dem Netflix-Erfolg konfrontiert wurde. Dass ihm nichts Besseres einfiel, als auf die Fettleibigen und Armen zu verweisen, lässt tief blicken. Dieser Personenkreis zählt – ebenso wie die Alten – eher nicht zu den Gruppen, die die werbetreibende Industrie erreichen will. Von Werbung leben Ebelings Sender.

    Sinkende Werbeeinnahmen durch geringere Einschaltquoten

    Neben dem allgemeinen Reichweitenrückgang bedeutet die neue digitale TV-Welt für traditionelle Kanäle auch sinkende Werbeeinnahmen – nicht nur, weil sich attraktive Zielgruppen Online-Plattformen zuwenden. An sich brauchen viele Werbetreibende keine Sender mehr. „BMW könnte seinen Kunden vor dem Start des nächsten James-Bond-Films eine Smartcard schicken“, sagt ein Finanzanalyst. „Mit ihr wären sie in der Lage, den Film zu sehen, bevor er im Kino anläuft.“

    Das Online-Kaufhaus Amazon arbeitet schon heute so: Die Kunden seines Prime-Services haben auch Zugang zur Online-Plattform Amazon Video. Sie ist wohl deshalb mit geschätzt knapp drei Millionen Nutzern die reichweitenstärkste in Deutschland. Netflix hat hierzulande nach Branchenschätzungen gut zwei Millionen und Maxdome (gehört zu ProSiebenSat.1) gut eine Million Abonnenten. Weltweit aber liegt Netflix vorn.

    Die richtigen Angebote für jede Zielgruppe

    Online-Plattformen kosten die Sender nicht nur Zuschauer und Werbeeinnahmen, sie entwerten auch ihre Programme. 170 Millionen Euro musste ProSiebenSat.1 kürzlich auf sein Programmvermögen, unter anderem viele Serien, abschreiben. Qualitativ kann die für herkömmliche Sender produzierte Ware mit den für viel Geld produzierten Serien der Plattformen nicht mithalten. Und „Binge-Watching“, die Angewohnheit, mehrere Folgen einer Serie am Stück anzusehen, ist bei TV-Sendern nicht möglich.

    Der Vormarsch der Online-Video-Plattformen ist nicht aufzuhalten. Die Frage ist nur, ob Netflix im globalen Wettbewerb die Nase vorn behalten wird. Um das zu gewährleisten, werden die Kalifornier auch weiterhin die Daten ihrer Nutzer akribisch auswerten. Dahinter steckt die Absicht, jeder Zielgruppe die Serien und Filme anzubieten, die sie haben will.