Wolfsburg. Der ehemalige Apple-Manager Johann Jungwirth soll Volkswagen als Digitalchef in die abgasfreie Zukunft führen. Wie sieht sein Plan aus?

Revolutionen sind Basisarbeit. Der Mann, der für Volkswagen die digitale Welt erschließen soll, ahnt, dass er auch die Belegschaft begeistern muss. Johann Jungwirth versucht es daher mit einer App. Über GroupFind können sich die Volkswagen-Mitarbeiter miteinander vernetzen. Daran angeschlossen ist eine interne Social-Media-Plattform. „So kann jeder jeden sofort finden“, sagt der Digitalchef, „das ist toll.“ Jungwirth zieht sein iPhone aus der Hosentasche, öffnet die Anwendung. Die App fragt nach Nutzername und Passwort. Jungwirth tippt – Fehlermeldung. Ein zweites Mal. Wieder falsch. Ein dritter Versuch. Die Zugangsdaten passen einfach nicht.

Natürlich ist das nur eine Anekdote. Volkswagens Digitalstrategie wird nicht an einem vergessenen Passwort scheitern. Aber die Szene verrät viel über das, was Jungwirth in Wolfsburg leisten muss. Der „Chief Digital Officer“, wie seine Bezeichnung offiziell heißt, soll den digitalen Umsturz eines der größten Autobauer der Welt anführen.

Ein eigenes Büro hat Jungwirth nicht, dafür eine Carrera-Bahn

Er soll eine einheitliche Digitalisierungsstrategie für alle Marken entwickeln. Mitarbeiter, die bislang am Verbrennungsmotor arbeiteten, sollen für die Elektromobilität begeistert werden. Dem selbstfahrenden Auto soll er zum Durchbruch verhelfen. Bei all dem wird der frühere Apple-Manager von Skeptikern beäugt, die seine Berufung als Ablenkungsmanöver abtun, um von den eigentlichen Problemen des Konzerns mit der Dieselkrise abzulenken.

Jungwirths 60-köpfiges Team sitzt in einer Fabrikhalle auf dem Wolfsburger VW-Gelände. Früher war hier die Gießerei. Die Halle gehört zu den alten Gebäuden auf dem Areal. Die Isolierung ist schlecht, an Sommertagen kann es heiß werden. Auf einer großen Fläche stehen Schreibtische, Stellwände, auf die Mitarbeiter Ideen skizzieren, ein Tischkicker, eine Tischtennisplatte. Ein eigenes Büro hat Jungwirth nicht, dafür eine Carrera-Bahn neben seinem Schreibtisch stehen.

Besuchern bietet Jungwirth das „Du“ an

Es sei ihm wichtig, dass es keine Grenzen zwischen den Hierarchien gebe. „Das spornt die Mitarbeiter an, einfach mal vorbeizukommen“, sagt Jungwirth. Der IT-Mann gibt sich ungezwungen. Auf Krawatte und Anzug verzichtet er. Besuchern bietet er das „Du“ an. „Ich bin JJ“, sagt er dann, wobei er die beiden Buchstaben amerikanisch ausspricht.

Nach außen hin beherrscht Jungwirth jedenfalls die Rolle des digitalen Vordenkers. Er weiß um die Signalwirkung seiner Personalie. Volkswagen-Konzernchef Matthias Müller habe sich auch für ihn entschieden, weil er mit seiner „Erfahrung und dem Spirit aus dem Silicon Valley authentisch für diese Transformation stehe“, sagte der Digitalchef über sich. „Das meine und lebe ich so“, fügt er an. Vielleicht weil er ahnt, dass manche dies als Show bezeichnen könnten. Jungwirth erklärt, die Menschen im Silicon Valley gingen größere Risiken ein, „man denkt und handelt groß und visionär“.

Der Abgas-Skandal zeigt: VW hat Zukunftstechnologien verschlafen

Gedacht haben sie in Wolfsburg früher auch viel, aber selten so wie jemand im Silicon Valley. Offensichtlich wird das im Oktober 2015. Die US-Umweltbehörde deckt auf, dass Volkswagen bei Millionen von Dieselfahrzeugen die Abgaswerte manipuliert hat. Der Skandal stürzt das Unternehmen in die schwerste Krise seiner Geschichte. Es folgen Gerichtsverfahren, Milliardenstrafen, Image-Schaden.

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    Und der Skandal offenbart: Volkswagen hat Investitionen in Zukunftstechnologien verpasst. Noch auf der Automesse in Genf im September 2015 hatte der damalige Porsche-Chef Matthias Müller das autonome Fahren als „Hype“ abgetan. Disruptiv, wie man im Silicon Valley zu bahnbrechenden Technologien sagt – disruptiv war in Wolfsburg höchstens die Software, die zum Skandal führte.

    Bisher arbeiteten die zwölf Konzernmarken eher gegen- als miteinander

    Mitten in der Krise heuert VW-Chef Müller den Manager aus dem Silicon Valley an. Jungwirth ist zu dem Zeitpunkt gerade Manager bei Apple. Es heißt, er habe dort an dem Projekt iCar, gearbeitet. Der 44-Jährige soll fortan direkt an den Vorstandschef berichten und dafür sorgen, dass wesentliche Innovationen nur einmal gemacht werden. Denn bislang arbeiteten die zwölf Konzernmarken bei der Entwicklung des selbstfahrenden Autos oder der E-Mobilität eher gegen- als miteinander.

    Eine der ersten Amtshandlungen Jungwirths war die Einrichtung von drei „Future-Centern“ – in Potsdam, Peking und im Silicon Valley. Dort denken Ingenieure gemeinsam mit Industriedesigner darüber nach, wie sich die Menschheit in Zukunft fortbewegt.

    Ideen sollen schnell umgesetzt werden

    Die Teams sind gemischt, auf kurzem Dienstweg sollen Ideen schnell realisiert werden. Auch Jungwirths Prestigeprojekt – das Modellauto Sedric ist dort entstanden. Sedric ist das erste selbstfahrende Auto des Konzerns, eine Art fahrendes Wohnzimmer, das an eine Kreuzung aus Ufo und Auto erinnert.

    Innen fehlen Pedale und Lenkrad, dafür gibt es viel Platz für „Interieur-Konzepte“, wie Jungwirth es nennt. Der Digitalchef denkt an eine kleine Bibliothek, Flachbildfernseher oder Platz, um mal mit den Kindern zu spielen – denn auf die Straße gucken muss man nicht mehr.

    VW-Kunden sollen einen Sedric per Fernbedienung ordern können

    Jungwirth zeigt eine dünne Fernbedienung, die so aussieht als könne sie auch ein Produkt von Apple sein. Künftig sollen Volkswagen-Kunden nur noch auf den großen Knopf drücken und schon kommt ein Sedric vorgefahren – eine Art Stadt-Shuttle, das von vielen genutzt werden kann. Der studierte Elektrotechniker Jungwirth will so auch den Wandel des Konzerns zum Mobilitätsdienstleister vorantreiben.

    Im Gegensatz zu BMW, die etwa mit dem Carsharing Drive now in zahlreichen Städten Kunden gewinnen, hat Volkswagen bislang keinen vergleichbaren Dienst etabliert. Ab 2021 soll Sedric in den ersten Städten unterwegs sein. Genau benennen kann er diese noch nicht. Das hängt auch von der Gesetzeslage für fahrerlose Autos ab. Jungwirth ist trotzdem optimistisch, dass es in vier Jahren losgeht: „Ich bin der festen Überzeugung, dass das realistisch ist, dafür stehe ich ein.“

    Bald braucht der Mensch keine Autos mit Abgasen mehr

    Mehr noch als das Roboterauto muss Volkswagen die E-Mobilität vorantreiben. 2020 gilt als Schlüsseljahr, dann sollen batteriebetriebene Fahrzeuge in großer Stückzahl von den Bändern laufen. Mehr als 30 zusätzliche Elektromodelle will der Autobauer bis 2025 auf den Markt bringen. Die Marke VW etwa plant mit den ID-Modellen eine ganze Serie von E-Autos. Der Autoexperte Ferdinand Dudenhöffer wertet das als großen Fortschritt: „Der Konzern hat in den vergangenen zwei Jahren eine 180-Grad-Wende vollzogen.“

    Beim Digitalchef klingt das noch radikaler. Bereits ab dem nächsten Jahr würden E-Fahrzeuge durch mehr Reichweite zu relevanten Erstfahrzeugen, sagt Jungwirth, „der Mensch braucht dann überhaupt kein anderes Auto mehr.“ Man kann sich vorstellen, dass in einem Konzern, der bislang noch mit Diesel und Benzinern Geld verdient – fast 5,4 Milliarden Euro nach Steuern im vergangenen Jahr –, nicht jeder bei derlei Worten freudig in die Zukunft blickt.

    Die E-Mobilität wird viele Arbeitsplätze kosten

    Der Mobilitätsforscher Stefan Bratzel sagt, es habe im Konzern auch schon „Ordnungsrufe“ in Richtung des Digitalchefs gegeben, nach dem Motto „Du kannst nicht alles sagen“. Schließlich wird der Durchbruch der E-Mobilität auch viele Arbeitsplätze überflüssig machen. In seinem Zukunftspakt, hat VW den Wegfall Tausender Stellen bis 2025 beschlossen. Allerdings werden auch Softwarespezialisten eingestellt.

    Man könne es nicht anders formulieren, sagt Bratzel, die einzelnen Abteilungen würden „sich kannibalisieren“. Es ist ein Spagat, den Jungwirth schaffen muss – neue Technologien vorantreiben, ohne die Abteilungen, die den Konzern stark gemacht haben, zu vergrätzen. Jungwirth sagt, der Umgang mit dem gesamten Konzernvorstand sei von Offenheit geprägt. Der Vorstand und der Betriebsrat unterstützten ihn bei seinen Initiativen. Letztendlich wird der Digitalchef aber daran gemessen, ob Volkswagen in der neuen Welt auch Gewinne einfährt. Nur wenn ihm das gelingt, wird Jungwirth auch seine internen Kritiker überzeugt haben.