Berlin. Der Spruch des Verfassungsgerichts zu einheitlichen Gewerkschaften nährt eine gefährliche Illusion. Die Tarifautonomie wird unterhöhlt.

Die Arbeitsniederlegung als Mittel, um höhere Löhne zu erzwingen, ist uralt. Einst streikten im ägyptischen Dorf Deir el-Medina die Arbeiter, welche die Königsgräber konstruierten. Mit der Parole „Wir sind hungrig!“ verlangten sie mehr Getreide. Dieser erste dokumentierte Streik der Weltgeschichte (1159 v. Chr.) war so etwas wie der erste Aufstand einer Spartengewerkschaft.

Denn die Handwerker, die die Königsgräber bauten, hatten einen besonderen Status: Sie waren Staatsangestellte. Manche konnten sich sogar Häuser leisten, verfügten über Diener und erhielten Auszeichnungen vom Pharao. Sie hatten eine außergewöhnliche Position in der Gesellschaft.

Spezialisten können mehr verlangen als andere Berufsgruppen

Ähnlich privilegiert sind heute Piloten, Ärzte oder – noch – Lokführer. Ihre Position hängt auch mit der Spezialisierung ihres Berufes zusammen. Sie sind nicht so leicht zu ersetzen. Ihre Arbeitskraft ist ein knappes Gut. Wenn sie streiken, können sie mehr verlangen als andere Berufsgruppen.

So haben sich durchsetzungsfähige Kleingewerkschaften herausgebildet wie etwa Cockpit, GDL und Marburger Bund. Mitgliederzwerge, die Konzernriesen schnell in die Enge treiben können. Im Zweifelsfall legen sie ganze Krankenhäuser oder den kompletten Flugbetrieb und Bahnverkehr lahm. Hier gilt noch das alte Arbeiterlied: „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will.“ Nur werden nicht mehr die Interessen verarmter Arbeiter verteidigt, sondern beachtliche Gehaltssteigerungen für ohnehin schon stark privilegierte Spezialisten erstritten.

Der Abschluss der mitgliederstärksten Gewerkschaft soll gelten

Bislang war es das Recht solcher Kleingruppen, bei Tarifauseinandersetzungen das Maximum herauszuholen – im Zweifelsfall auch auf Kosten größerer Gruppen im selben Betrieb. Denn Ärzte-Gewerkschaften verhandeln nicht bessere Löhne für Krankenschwestern, Piloten streiken nicht für das Kabinenpersonal, Lokführer nicht für Zugbegleiter.

Diese Zersplitterung wollte die Bundesregierung beenden, und das Bundesverfassungsgericht folgt dem weitgehend: Bei konkurrierenden Tarifverträgen in einem Betrieb soll künftig allein der Abschluss mit der mitgliederstärksten Gewerkschaft gelten. Die unterlegene Gewerkschaft kann sich den Vereinbarungen nur durch nachträgliche Unterzeichnung anschließen. Wer die meisten Mitglieder hat, sollen dann Arbeitsgerichte entscheiden.

Das Gesetz unterhöhlt die Tarifautonomie

Auf den ersten Blick eine Lösung, die überzeugend wirkt. Denn künftig könnte die in einem Betrieb erreichbare Summe an Gehaltssteigerungen allen Beschäftigten zugutekommen. Auch könnte das Gerangel verschiedener Gewerkschaften gestoppt werden.

Doch bei genauerer Betrachtung zeigen sich auch die Gefahren des Gesetzes. Es unterhöhlt das hohe Gut der Tarifautonomie. Mit gutem Grund haben zwei Verfassungsrichter abweichende Meinungen formuliert: „Die Wahrscheinlichkeit, dass der Gesetzgeber heftigere Konkurrenzen und Statuskämpfe in einzelnen Betrieben provoziert, erscheint hoch“, schreiben die Richter. Es gebe im Gesetz eine gefährliche Tendenz, die Interessen aller Arbeitnehmer als einheitlich aufzufassen. Diese Vorstellung privilegiere die großen Branchengewerkschaften.

Einige Gewerkschaften erlangen nun das Monopol als Interessenvertretung

Kein Wunder, dass der Deutsche Gewerkschaftsbund sich freut. Erlangt er doch jetzt ein Quasi-Monopol als Interessenvertretung. Das Grundgesetz definiert Tarifautonomie eigentlich anders und freier: als das Recht einzelner Gruppen, konkrete Verträge zu erstreiten. Der gesetzlich erzwingbare Betriebsfrieden ist eine gefährliche Illusion. Denn das Gesetz kann die Konkurrenz zwischen Gewerkschaften erst recht befeuern und Belegschaften spalten. Mehr Streiks könnten die Folge sein, nicht weniger.