Cuxhaven/Hull. Mit der Produktion von Windenergie-Anlagen will sich Siemens neu erfinden. In Cuxhaven und in Großbritannien baut der Konzern Fabriken.

Allein die Fläche der Baustelle in Cuxhaven, an der Elbmündung in die Nordsee, lässt erahnen, dass hier etwas Großes entsteht. Direkt an der Küste baut Siemens auf 170.000 Quadratmetern ein neues Offshoreturbinenwerk. Damit avanciert der Industriekonzern zum größten Arbeitgeber der Stadt mit rund 50.000 Einwohnern. Ende Oktober sollen die ersten Windturbinen ausgeliefert werden. Die Bedeutung der Anlage kann nicht überschätzt werden – für die strukturschwache Region und den Münchener Konzern gleichermaßen.

Es ist die erste Produktionsanlage seit 20 Jahren, die Siemens in Deutschland baut. 200 Millionen Euro investiert Siemens, Weltmarktführer beim Bau von Offshorewindturbinen. Für den Mischkonzern ist das Geschäft mit den Turbinen ein lukrativer Wachstumsmarkt. Die Nachfrage steigt weltweit. Bereits elf Milliarden Euro setzt die Windsparte von Siemens jährlich um, was 2017 wohl gut ein Achtel des gesamten Konzernumsatzes sein wird. Denn Windparks vor den Küsten sind ein Grundpfeiler der Energiewende weltweit. Vor allem auf der Nord- und Ostsee sollen in den kommenden Jahren viele neue Offshoreparks entstehen.

Offshorewindturbinen mit acht Megawatt Leistung

Damit die Energiewende finanziell gestemmt werden kann und künftig keine Subventionen mehr benötigt werden, braucht es Windkraftwerke der nächsten Generation mit mindestens zehn Megawatt Leistung, die mit hoher Effizienz in großen Stückzahlen hergestellt werden. Je größer und effizienter die Windturbinen sind, desto geringer der Preis je Kilowattstunde Strom. Dafür ist die Siemens-Fabrik in Cuxhaven ausgelegt. In der Anlage entstehen die modernsten Offshorewindturbinen mit acht und mehr Megawatt Leistung. Jährlich soll eine dreistellige Zahl von Windkraftwerken entstehen. Das beinhaltet die Endmontage von Generatoren, Naben und Gondelteilen, aus denen dann die Maschinenhäuser für die Offshorewindenergieanlagen entstehen.

Vor wenigen Jahren noch warf das benachbarte Bremerhaven Schatten auf Cuxhaven. Dort boomte das Windkraft-Geschäft. In Cuxhaven hingegen hatten Offshorewindkraftpioniere wie Bard aufgegeben. Mit der Ansiedlung von Siemens setzte sich Cuxhaven nun als wichtigster deutscher Standort durch.

Ein kleiner Ort in Großbritannien setzt voll auf Siemens

Von dem Investment profitieren gleich mehrere Orte an der Nordsee. Etwa auch das Städtchen Hull in Großbritannien, wo die Rotorblätter der Anlagen für die Fertigung in Cuxhaven produziert werden. Auch in Großbritannien verspricht man sich viel vom neuen Wind bei Siemens. Der Ratsherr von Hull, einer 260.000 Einwohnerstadt im Nordwesten der Insel, Martin Mancey, sagt ganz ironiefrei: „Die Zukunft Hulls ist rosig.“ Der Grund für seinen Optimismus steckt in der Siemens-Fabrik am Hafengelände, die seit Anfang des Jahres Rotorblätter für Offshore-Windparks in der Nordsee herstellt. Der Beginn einer neuen Ära, die auch Hull wieder zu alter Größe verhelfen soll: Grüne Energie statt Fischfang.

Die riesige Siemens-Fabrik, sieben Fußballfelder groß, ist mit 430 Millionen Euro das größte Investment in der Geschichte Hulls. In dem Hafenbecken wurde früher Kohle aus Yorkshire verladen, heute werden von hier aus zahlreiche Windparks vor der nordenglischen Küste beliefert und gewartet. 1000 Jobs haben die Münchner mit dem neuen Werk geschaffen, „und 96 Prozent der Angestellten wohnen in einem Umkreis von 50 Kilometern“, sagt der für Energiethemen zuständige Ratsherr Mancey, während er durch das barocke Rathaus führt, das hier Guildhall genannt wird.

Ein Segen für das von Arbeitslosigkeit gebeutelte Hull. Großbritannien ist Vorreiter in Sachen Windenergie, nirgendwo drehen sich mehr Windräder als vor den hiesigen Küsten. Ein Drittel des weltweiten Offshorewindstroms entsteht hier. 2016 produzierte das Vereinigte Königreich erstmals mehr Strom mit Windkraft als mit Kohlekraftwerken, Tendenz steigend.

Grüne Energie als Hoffnungsschimmer

Für viele wirtschaftlich abgehängte Regionen ist grüne Energie ein erster Hoffnungsschimmer nach vielen Jahrzehnten des ökonomischen Niedergangs. Denn von dem Boom profitieren vor allem Küstengemeinden mit ihrer günstigen Lage nahe den Windparks. Gemeinden wie Hull. „Siemens hat mehr als hundert mögliche Standorte in ganz Europa für seine Fabrik geprüft“, sagt Martin Budd, Umweltreferent in der Stadtverwaltung von Hull.

Hull erkannte schon im Jahr 2006 in einer Studie das Zukunftspotenzial von erneuerbarer Energie. 2010 wurde mit der „Green Port Hull Initiative“ ein Masterplan erstellt, der grüne Energie ins Zentrum eines lange notwendigen wirtschaftlichen Neuanfangs stellte. „Ökonomischer Wandel kommt nicht von heute auf morgen, doch langsam, aber sicher geht die Saat auf, die wir gesät haben“, sagt Ratsherr Mancey. Der Mittsechziger ist voller Enthusiasmus. Gleichzeitig gesteht er aber ein, dass die Stadt immer noch vor riesigen Herausforderungen steht. Die letzten Jahrzehnte haben ihre Spuren hinterlassen. Zu viele schlecht qualifizierte Leute, für die es schwer wird, vom Aufschwung zu profitieren, zu wenige gut bezahlte Jobs. Für die 1000 neuen Stellen bei Siemens gab es 26.000 Bewerber.

Wie es nach dem Brexit weitergeht, ist noch unklar

Und dann schwebt da noch das Brexit-Gespenst über der Stadt. 67 Prozent haben hier im vergangenen Jahr für den Brexit gestimmt. Ein seltsamer Widerspruch in einer Stadt, für die Investitionen europäischer Firmen die Hoffnung sind. Langfristig könnte das Votum zum Bumerang für Städte wie Hull werden. Siemens möchte zwar zuerst einmal für den britischen Markt produzieren, in ein paar Jahren soll aber auch nach Europa exportiert werden. Bei einem Ausstieg aus dem Binnenmarkt könnte das bedeutend schwieriger werden.

Der Labour-Politiker Mancey kann eine gewisse Enttäuschung nicht verbergen. Seinen Optimismus möchte er sich aber nicht nehmen lassen. Die Stimmung in Hull habe sich in den letzten Jahren dramatisch gewandelt, erzählt er. Zum ersten Mal habe die Stadt wieder Selbstbewusstsein. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich halbiert. „Das Green-Port-Projekt gibt uns eine Zukunft für zumindest die nächsten fünfzig Jahre“, sagt Mancey. Eine Zukunft, die dort liegt, wo der Niedergang begonnen hat. Draußen auf hoher See.

Die großen Chancen sehen auch die Stadtoberen in Cuxhaven. Oberbürgermeister Ulrich Getsch rechnet mit einer Erhöhung der Kaufkraft um 20 bis 30 Millionen Euro, die Nachfrage nach Gewerbeflächen steigt schon jetzt. Auch die ersten Zulieferer siedelten sich bereits an, sagt Markus Tacke, Vorstand von Siemens Wind Power and Renewables. Es weht ein frischer Wind an der Küste. Er kann Wohlstand bringen.