Berlin. Die Konjunktur in Deutschland läuft trotz weltweiter Krisen rund. Hohe Beschäftigung und Konsum helfen. Doch nicht alle profitieren.

Wenn es um die Wirtschaft geht, hört man viel von Schuldenkrisen, Risiken und Ungerechtigkeit. Dabei gerät schnell in Vergessenheit, dass die deutsche Wirtschaft seit sieben Jahren beständig wächst. Alleine im vergangenen Jahr ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also der Wert aller hergestellten Waren und Dienstleistungen, um 1,9 Prozent gestiegen; die Inflation ist dabei herausgerechnet.

Auch für dieses und nächstes Jahr sagen Forscher etwa 1,5 Prozent Wachstum voraus. Woran liegt es, dass Deutschland so gut durch die Eurokrise gekommen ist? Und was sind die Schattenseiten der vergangenen Jahre? Da hilft ein Blick darauf, wie sich das Wirtschaftswachstum zusammensetzt.

• Steigende Kauflaune

Zum ersten Mal seit den Neunzigerjahren erkaufen sich die Menschen in Deutschland ihren Aufschwung zu einem großen Teil selbst: Die Ausgaben der privaten Haushalte machen gut die Hälfte des Bruttoinlandsprodukts aus, und diese sind 2016 um zwei Prozent gestiegen. Die Kauflaune war besonders hoch, weil Öl- und Gaspreise so niedrig waren, sagt Michael Grömling, Konjunkturexperte des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln (IW). „Das Geld, das man zum Beispiel an der Tankstelle weniger ausgibt, steht für andere Zwecke zur Verfügung.“

• Hohe Erwerbstätigkeit

Vor allem aber konnte der Konsum zulegen, weil inzwischen mehr als 43 Millionen Menschen in Deutschland erwerbstätig sind. Das sind so viele wie nie zuvor – und drei Millionen mehr als vor Ausbruch der Finanzkrise von vor zehn Jahren. „In vielen Bereichen ist Deutschland heute nahe der Vollbeschäftigung“, sagt Stefan Bielmeier, Chefvolkswirt der genossenschaftlichen DZ Bank. Manchen Unternehmen fehlen Fachkräfte, die Löhne steigen, und die Menschen können mehr Geld ausgeben. „Da fängt eine positive Spirale an, sich zu drehen“, so Bielmeier.

Mehr gespart haben die Deutschen dagegen nicht – im Schnitt knapp zehn Prozent ihres Einkommens, wie die Bundesbank berichtet. Kein Wunder: Die Zinsen auf Sparbücher, Festgeld oder Bundesanleihen liegen nahe null.

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    • Staat erhöht die Ausgaben

    Noch stärker als die Ausgaben der Privatleute ist im vergangenen Jahr der Staatskonsum gestiegen, nämlich um insgesamt vier Prozent. Hier macht sich vor allem bemerkbar, dass der Staat mehr Geld für Flüchtlinge ausgegeben hat, etwa für Unterkünfte oder Sprachkurse. Ein Großteil dieser Wertschöpfung ist im Inland geblieben. „Die Sonderausgaben für Flüchtlinge wirken wie ein Konjunkturprogramm auf Knopfdruck“, sagt Ökonom Grömling.

    • Boom im Wohnungsbau

    Doch es sind nicht nur Flüchtlinge gekommen: Auch innerhalb Deutschlands ziehen viele junge Menschen vom Land in die Städte, um etwa ein Studium oder einen Job anzutreten. Deshalb wird in den Städten fleißig gebaut; im vergangenen Jahr wurden bundesweit so viele neue Wohnungen genehmigt wie seit 17 Jahren nicht.

    Auch hier machen sich die niedrigen Zinsen bemerkbar: Baukredite sind günstiger geworden, und viele Anleger investieren nun in Immobilien, weil andere Anlagen keine Rendite mehr bringen. „Die gute Baukonjunktur trägt deutlich zum Wirtschaftswachstum bei“, sagt Volkswirt Bielmeier. Baufirmen und Handwerker haben zurzeit so viele Aufträge wie seit zwei Jahrzehnten nicht.

    • „Made in Germany“ ist gefragt

    Eine Umfrage in 53 Staaten kam Ende März zu dem Ergebnis, „made in Germany“ sei das beliebteste Gütesiegel der Welt. Seit der Jahrtausendwende haben hiesige Unternehmen ihre Exporte verdoppelt; sie verschiffen vor allem Autos, Autoteile und Maschinen in die ganze Welt. Auch hier profitieren deutsche Exporteure von der lockeren Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB), sagt Bielmeier, „weil der Euro-Wechselkurs aus ihrer Sicht angenehm niedrig ist“. Das macht europäische Produkte für den Rest der Welt günstiger.

    „Hier zeigt sich, dass die EZB für den gesamten Euroraum zuständig ist“, sagt Bielmeier. Für Deutschland alleine wäre die derzeitige Geldpolitik eigentlich zu locker. Während sich Sparer also über die niedrigen Zinsen ärgern, profitiert die Wirtschaft vom billigen Geld. In den vergangenen Jahren sind Deutschlands Exporte stärker gestiegen als die Importe. Dieser Überschuss im Außenhandel macht acht Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Die Unternehmen können viel exportieren, weil die Weltwirtschaft insgesamt wächst.

    Doch zeigt ein Blick auf die wichtigsten Exportpartner, wie unsicher die Lage ist: Die meisten Güter führt Deutschland in die USA aus, deren Präsident Donald Trump eine eher importfeindliche Linie angekündigt hat. Zweitwichtigstes Abnehmerland ist Frankreich, wo Präsidentschaftswahlen anstehen – gefolgt von Großbritannien, deren Handelsbeziehung zur EU nach dem Brexit unklar ist. „Ein stärkerer Protektionismus würde die deutsche Wirtschaft wohl treffen“, sagt IW-Experte Grömling.

    • Geringe Investitionen in die Zukunft

    Wegen der Ungewissheit, wie es mit dem Freihandel und der Eurozone weitergeht, haben deutsche Firmen zuletzt weniger Geld für neue Maschinen und Fabriken ausgegeben. „Viele Unternehmen investieren zurzeit nicht mehr als das Nötigste“, sagt Grömling, „weil das wirtschaftliche Umfeld unsicher erscheint.“ Ökonomen finden das bedenklich, weil Investitionen die Grundlage für mehr Wachstum und höhere Löhne in der Zukunft legen.

    „Hier sollte der Staat mit einem wohldosierten Investitionsprogramm einspringen“, fordert Peter Hohlfeld vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung. Schließlich sei die Kassenlage gut. „Und es gibt einigen Nachholbedarf, zum Beispiel bei Schulen und Infrastruktur.“ So sei der stockende Ausbau schneller Internetverbindungen Folge schwacher Investitionen der vergangenen Jahre.

    • Wachstum kommt nicht bei jedem an

    Die Zahlen beschreiben immer nur, wie sich das Ganze entwickelt hat. Doch nicht alle Bürger profitieren in gleichem Maße. So waren die Gehaltssteigerungen im Einzelhandel und anderen Dienstleistungen in den vergangenen Jahren niedriger als im Durchschnitt. „Bei den Lohnzuwächsen gibt es eine gewisse Spreizung“, sagt Hohlfeld. So haben die Löhne etwa in der Industrie deutlich angezogen, weil dort die Produktivität stärker gestiegen ist und viele Beschäftigte nach Tarif bezahlt werden, was regelmäßige Steigerungen verspricht.

    „Insgesamt lässt die Tarifbindung in Deutschland aber deutlich nach“, sagt Hohlfeld. Nur wenn die Einkommen in einem breiten Teil der Gesellschaft steigen, könne der private Konsum Wachstumstreiber bleiben.

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