London. Angefangen hat die britische Glockengießerei Whitechapel Bell Foundry unter Elizabeth I. Fast 470 Jahre später ist jetzt wohl Schluss.

Was verbindet die Liberty Bell aus Philadelphia und die Great Bell, besser bekannt als Big Ben, in London? Beide Glocken – jene, die anlässlich der Verlesung der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung 1776 geläutet wurde, und die, die im Turm des Palastes von Westminster die volle Stunde schlägt – stammen aus derselben Gießerei im Londoner Osten, der Whitechapel Bell Foundry.

Doch die Tage dieses ältesten ununterbrochen produzierenden Betriebs in Großbritannien sind gezählt. Er wolle nur bis Mai 2017 weiter machen, teilte Eigentümer und Glockengießer Alan Hughes vor ein paar Tagen mit. Der Geschäftsbetrieb stehe zum Verkauf.

32-34 Whitechapel Road, eine der großen Ausfallstraßen in Londons Osten. Unauffällig ist das dreigeschossige Gebäude aus nachgedunkelten Backsteinen mit den in der Stadt üblichen alten hölzernen Schiebefenstern. Nur wer genau hinschaut, entdeckt den goldenen Schriftzug über dem Eingang zum kleinen Ladenlokal: „Established A.D. 1570“, gegründet 1570. Elisabeth I. war damals Königin von England.

Glocken für St. Pauls, Indien und Armenien

Die Glocken für Westminster Abbey, St. Paul’s Cathedral und für unzählige Kirchen im ganzen Land wurden über die Jahre hier gegossen. Aber auch das Geläut der armenischen Kirche in Chennai im Süden Indiens stammt von hier und die Bell of Hope, die in New York an die Opfer des Terroranschlags vom 11. September erinnert.

„Schweren Herzens haben wir diese Entscheidung getroffen, sie ist die Antwort auf die Veränderungen, denen ein Geschäft wie das unsere in diesen Zeiten ausgesetzt ist“, sagte Hughes dem lokalen Internetportal „Spitalfields Life“. Immer wieder habe die Gießerei in den langen Jahren ihres Bestehens Eigentümer und Standort gewechselt. „Es ist wohl wieder an der Zeit weiterzuziehen“, sagt Hughes.

Eigentümer Alan Hughes ist seit 50 Jahren im Betrieb

Immerhin: Den aktuellen Standort nutzt der Familienbetrieb seit 1738, eine große Werkstatt mit angrenzendem Wohnraum, das Gebäude unter Denkmalschutz. Im Besitz der Hughes ist die Gießerei seit 1904, als Arthur Hughes, Alans Urgroßvater, das Unternehmen, in dem er bereits zwei Jahrzehnte tätig war, übernahm.

Der jetzige Eigentümer arbeitet seit über 50 Jahren im Betrieb. Im Mai, wenn er aufhört, wird er 68 Jahre alt sein. Und er versichert seinen Kunden: „Der Betrieb beabsichtigt, in den kommenden Monaten die Arbeit an allen derzeit vorliegenden Projekte abzuschließen. Wir werden jedoch zunächst keine neuen Verträge eingehen...“

Kurzfristiger Auftragsschub vom Onlineshop

Grundsätzlich läuft das Geschäft gar nicht schlecht. 2015 war ein extrem arbeitsreiches Jahr, das beste seit drei Jahrzehnten mit einem Auftragssprung von 27 Prozent, sagte Hughes. Nicht zuletzt habe der Online-Shop einen Schub gegeben, ergänzt seine Frau Kathryn. „Am ersten Tag 2013 haben wir mehr Aufträge bekommen als sonst in einer Woche.“ Und sie fügt lachend hinzu, dass es nicht in diesem Tempo weitergegangen sei.

Denn neben großen Kirchenglocken fertigt die Gießerei jede Menge kleiner Exemplare, für musikalische Zwecke, als Türglocke oder zum Einläuten der weihnachtlichen Bescherung. Besonders angesagt bei US-amerikanischen Kunden: kleine Tischglocken in der Art, wie sie die Granthams in der historischen britischen TV-Serie „Downton Abbey“ nutzen, um ihre Bediensteten zu rufen.

Nach 43 Jahren Verhandlung wird jetzt gegossen

Und dennoch sieht Hughes die Zeit gekommen, aufzuhören. Da sind zum einen das Alter und das Fehlen eines Nachfolgers. Zum anderen würden strukturelle Probleme eine wichtige Rolle spielen. „Wir haben kürzlich angefangen mit einem neuen Geläut für St. Albans, nach 43 Jahren Verhandlungen. Das ist ein gutes Beispiel für die Zeiträume in denen wir arbeiten – mindestens zehn Jahre zwischen Auftragseingang und Lieferung sind ganz normal.“ Doch der Löwenanteil des Auftrags wird bei Lieferung bezahlt.

Zudem sind solche Arbeiten selten geworden: Die schrumpfende Zahlen von Gemeinden und regelmäßigen Gottesdienstbesuchern führt dazu, dass neue Kirchen auf der Insel praktisch nicht mehr gebaut werden. Hinzu kommt, dass die Ware außergewöhnlich beständig ist. Glocken kommen nicht aus der Mode oder werden durch technologische Neuerungen verändert, sie sind gemacht, um Jahrhunderte zu überstehen.

1888 mordet Jack the Ripper, heute ist das Viertel Trendgegend

Die Kosten sind gleichzeitig deutlich gestiegen, fürs Personal und den Alltag, nicht zuletzt weil Whitechapel in den vergangenen Jahren zu einem der besonders trendigen Viertel in London avanciert ist. Hughes und seine Mitarbeiter setzen heute noch die gleichen Methoden wie vor 300 Jahren ein, stellen ihre Gussformen aus einer Mischung aus Ton, Sand, Ziegenhaar, Pferdemist und Wasser her.

Währenddessen ist Whitechapel, das Viertel in dem vor bald 150 Jahren der gefürchtete Frauenmörder Jack the Ripper sein Unwesen trieb, durch eine Umwälzung nach der anderen gegangen. In den 1950er Jahren sei das eine geschäftige Gegend gewesen, erinnert sich Hughes. Jede Menge produzierende Betriebe, dazu in fußläufiger Entfernung die Hafendocks an der Themse. Zwanzig Jahre später war es damit vorbei, die Fabriken geschlossen, das Viertel eines der armen und verrufenen der Stadt. „Und dann wurde die Sache hier plötzlich trendy.“

Unterhalt des alten Gebäudes zu teuer

Nicht zuletzt dank der Nähe zum Finanzdistrikt ist Londons Osten zu einem Zentrum für Start-Ups und junge Technologiekonzerne geworden. Um die Ecke der Gießerei warten hippe Boutiquen und Kaffeeröstereien auf junge Kunden in Kapuzenpullovern. Für die Gießerei ist dagegen der Unterhalt der alten Gebäude teuer geworden, vor kurzem hätte er 20.000 Pfund in die Erneuerung des undichten Daches investieren müssen, klagt Hughes.

Das Ende der Glocken muss Hughes Abschied indes nicht bedeuten. Zwar sei das Gebäude verkauft, im Mai würden sie ausziehen, bestätigt seine Frau. „Aber wir führen Gespräche mit möglichen Käufern des Geschäftsbetriebs“, betonte sie. Eine separate Angelegenheit sei das und sie hoffe, dass sich jemand finde, der die Tradition an einem anderen Ort fortführen werde.