Berlin. Eine neue Studie zeigt: Mit der neuesten Euro-6-Abgasnorm stoßen moderne Diesel-Pkw deutlich mehr giftige Stickoxide aus als Lastwagen.

Der International Council on Clean Transportation (ICCT) existierte zehn Jahre lang fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Niemand nahm so recht Notiz von den Wissenschaftlern, die Analysen für sauberere Verkehrsmittel zum Wohle der Umwelt erstellen. Das änderte sich mit einem Schlag im September 2015.

Da deckte der ICCT den VW-Abgasskandal auf und enttarnte den betrügerischen Software-Trick. Jetzt steckt der weltgrößte Autobauer Volkswagen in existenziellen Nöten – und der ICCT sorgt für den nächsten Paukenschlag. Eine aktuelle Studie, die unserer Redaktion vorliegt, kommt zu dem Schluss: Moderne Diesel-Pkw der neuesten Euro-6-Abgasnorm belasten die Umwelt stärker als schwere Lkw.

ICCT-Experten haben die Messergebnisse von zwei Dutzend Bussen und Lastwagen der Euro-6-Generation mit denen von Pkw verglichen. Selbst gemessen haben die Forscher nicht. Ausgewertet wurden Daten von Fahrzeugen des Herstellers Mercedes-Benz, die dem ICCT vorlagen. Sie beruhten auf Material des deutschen Kraftfahrt-Bundesamtes (KBA). Dieses hatte Stickstoffdaten von Nutzfahrzeugen und Pkw des Herstellers zur Verfügung gestellt.

Messungen unter realen Fahrbedingungen auf der Straße

Der ICCT verglich die Daten und stellte fest: Unter realen Fahrbedingungen auf der Straße blasen Pkw mehr als doppelt so viel giftige Stickoxide in die Luft wie Laster und Busse. Lastwagen stießen im Schnitt 210 Milligramm Stickstoff aus, Pkw rund 500 Milligramm – jeweils pro gefahrenem Kilometer. „Schon der direkte Vergleich der Fahrzeugemissionen je Kilometer ist erstaunlich genug“, erläutert Rachel Muncrief, ICCT-Forscherin und Autorin der Studie. „Bezogen auf den Kraftstoffverbrauch, unter Berücksichtigung der höheren Lastanforderungen für Lkw und Busse, liegen die Stickoxid-Emissionen von Diesel-Pkw jedoch sogar um das Zehnfache über den vergleichbaren Werten für Nutzfahrzeuge.“

Seit 1. September 2014 ist die Euro-6-Abgasnorm Pflicht bei Kraftfahrzeugen. Gegenüber dem vorher maßgeblichen Euro-5-Standard legt die neue Regelung strengere Grenzwerte für den Schadstoffausstoß fest. Die schärferen Vorschriften betreffen vor allem Dieselfahrzeuge. Die ICCT-Studie beschäftigte sich nicht mit möglichen Grenzwertüberschreitungen, sondern widmete sich ausschließlich der Schadstoffproduktion von Klein- und Großfahrzeugen.

Ergebnis: Bei Lkw machte die Stickstoffreduzierung weitaus größere Fortschritte als bei Pkw. Insgesamt ging der Stickoxidausstoß von Lastern im Zuge der Euro-6-Pflicht um rund 95 Prozent zurück, der von Pkw um knappe 40 Prozent. Im direkten Vergleich waren Straßenkolosse wie ein Mercedes-Benz Actros mit 25 Tonnen Traglast und 480 PS deutlich umweltfreundlicher unterwegs als die Bluetec-Modelle S 350, C 220 oder V 250.

Bei Lastwagen und Bussen wird längst im realen Betrieb gemessen

Der Grund für das überraschende Ergebnis sei, dass bei Lkw und Bussen bereits seit Jahren die Werte im realen Betrieb auf den Straßen gemessen würden und die Grenzwerte dort eingehalten werden müssten. „Jahrelang richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit eher auf Lkw-Emissionen“, sagt Peter Mock, Geschäftsführer des ICCT in Europa. „Vor allem in den Innenstädten kritisierten Bürger und Initiativen die ständig steigenden Belastungen durch Lastwagen und Busse.“ Mit dem wachsendem Widerstand stieg der Regulierungsdruck – die Abgaswerte gingen runter.

„Pkw hingegen fuhren bislang offenbar unter dem kritischen Radar“, sagt Mock. Zwar würden die Grenzwerte bei präparierten Fahrzeugen auf Prüfständen meist eingehalten – die tatsächlichen Alltagswerte wichen aber weit davon ab. Tatsächlich beschränken sich die offiziellen Tests bei Pkw bislang auf Labormessungen sorgfältig vorbereiteter Prototypen, die von Herstellern ausgesucht und selbst getestet werden.

„Dagegen sind für die Ermittlung der Emissionen von Lkw und Bussen schon seit 2013 mobile Messgeräte vorgeschrieben, sodass zufällig ausgewählte Fahrzeuge unter realen Fahrbedingungen vermessen werden können,“ erläutert Mock. Dies soll sich ab September 2017 ändern. Dann will die EU-Kommission in Brüssel ein neues Messverfahren für die Zulassung einführen, das sich am realen Betrieb orientieren soll.

Schadstoffdaten anderer Hersteller schwerer zu erhalten

Daimler gerät eher zufällig in den Blickpunkt. „Von dort kamen die einzigen Vergleichsdaten, die uns zur Verfügung standen“, erklärt Mock und betont: „Die Lkw von Mercedes stehen insgesamt sehr gut da bei den Messungen – und die Pkw vermutlich nicht schlechter als die anderer Hersteller.“ Nur dass deren Schadstoffdaten schwieriger zu bekommen seien.

„Unsere Fahrzeuge sind nach den einschlägigen Vorschriften zertifiziert und zugelassen“, sagte Daimler-Sprecher Jörg Howe auf Anfrage unserer Redaktion. Die ICCT-Studie liege ihm nicht vor, er wolle sich daher „nicht zu den Ergebnissen äußern“.

Die Grünen sehen sich bestätigt. „Die Ergebnisse zeigen erneut: Die Dieseltechnologie ist eine Sackgasse“, sagte Fraktionschef Anton Hofreiter unserer Redaktion. Vor allem für Pkw müsse die deutsche Autoindustrie „schleunigst die Finger von dieser dreckigen Technologie lassen“ und „mit Vollgas zu alternativen Antrieben wechseln“. Für Verkehrsminister Dobrindt sei es „beschämend“, dass eine Nichtregierungsorganisation seinen Job mache.