Berlin. Zehn Prozent der Mediziner nehmen Geld von Herstellern und verordnen Patienten deren Mittel. Es sind nicht immer die geeignetesten.

Viele Pharmakonzerne bezahlen Ärzte dafür, dass sie beobachten, wie ihre Patienten bestimmte Medikamente vertragen. Eine Erhebung des Recherchezentrums Correctiv zeigt, welches Ausmaß die Zahlungen an Ärzte erreicht haben und welche Präparate mit umstrittenen Studien in den Markt gedrückt werden sollen. Vor allem mit sogenannten Anwendungsbeobachtungen können Ärzte erstaunlich viel Geld nebenher verdienen, wenn sie ein bestimmtes Medikament verschreiben und ein paar Formblätter ausfüllen.

Diese Anwendungsbeobachtungen seien wissenschaftlich wertlos, sagt Deutschlands oberster Medizinprüfer, Jürgen Windeler. Er leitet das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) und sagt, die Anwendungsbeobachtungen brächten „keinerlei Informationen über den Nutzen und die Wirksamkeit eines Medikaments“. Auch die Antikorruptions-Organisation Transparency International fordert seit Langem, diese Anwendungsbeobachtungen zu verbieten, weil sie „legalisierte Korruption“ seien und „eine Gefahr für Patientinnen und Patienten“. Doch die Pseudostudien sind bei Ärzten anhaltend beliebt.

Pharmaindustrie verteilt rund 100 Millionen Euro an Ärzte

Starten Pharmaunternehmen eine Anwendungsbeobachtung, müssen sie dies der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Krankenkassen melden. Das Recherchezentrum Correctiv hat mit Journalisten von „SZ“, NDR und WDR mehr als 14.000 Meldungen der Jahre 2009 bis 2014 ausgewertet. Erstmals wird das Ausmaß der umstrittenen Studien deutlich: Allein im Jahr 2014 haben 16.952 Ärztinnen und Ärzte teilgenommen, darunter rund 12.000 niedergelassene. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung haben damit zehn Prozent aller niedergelassenen Ärzte Geld von der Pharmaindustrie erhalten.

Für jeden Patienten haben die Ärzte im Jahr 2014 im Schnitt 669 Euro Honorar erhalten. Betrachtet man den längeren Zeitraum 2009 bis 2014, beträgt das durchschnittliche Honorar 474 Euro pro Patient. Im Zeitraum 2009 bis 2014 wurden Anwendungsbeobachtungen an 1,7 Millionen Patienten geplant. Insgesamt verteilte die Pharmaindustrie rund 100 Millionen Euro an Deutschlands Ärzte – pro Jahr.

Zweifelhafte Anwendungsbeobachtungen

„Anwendungsbeobachtungen stehen seit Längerem in der Kritik, da ihr Nutzen äußerst zweifelhaft ist. Zudem besteht die Gefahr, dass Ärzte lediglich aufgrund finanzieller Anreize ein bestimmtes Arzneimittel verordnen“, sagte Klaus Müller, Vorstand des Verbraucherzentrale Bundesverbands (vzbv). „Patienten haben ein Recht darauf zu erfahren, warum sie ein Arzneimittel erhalten oder auch nicht.“

Die meisten dieser umstrittenen Studien werden bei Krebspatienten gemacht. Wolf-Dieter Ludwig, Leiter der Onkologie und Hämatologie am Helios-Klinikum Berlin-Buch, beobachtet seit Jahren die unseriösen Angebote, mit denen die Industrie ihn und seine Kollegen zu ködern versucht. So hat zum Beispiel das Pharmaunternehmen Roche in den vergangenen Jahren mindestens zehn verschiedene Anwendungsbeobachtungen zum Roche-Präparat Avastin gemacht. Den Ärzten hat Roche dafür bis zu 1260 Euro pro Patient bezahlt. „Als Avastin im Jahr 2005 zugelassen wurde, haben alle Analysten gedacht, das wird ein Blockbuster, mit mehreren Milliarden Dollar Umsatz pro Jahr“, sagt Ludwig. Heute sei Spezialisten einigermaßen klar, dass Avastin nur für Darmkrebspatienten einen Zusatznutzen habe. Doch laut der Datenbank macht Roche Anwendungsbeobachtungen für Avastin auch bei Brustkrebspatientinnen, bei Nierenkrebs und bei Lungenkrebs.

„Für Fragen, die bereits beantwortet sind, braucht man keine Studien“

„Ich vermute, die ganzen Anwendungsbeobachtungen bei Avastin verfolgen vor allem den Zweck, die Ärzte zu motivieren, Avastin auch jenseits von Darmkrebs häufiger einzusetzen“, sagt Ludwig. Und das, „obwohl die Ergebnisse aus medizinischen Studien bei diesen Anwendungsgebieten wenig überzeugend sind“. Roche weist diese Kritik zurück. Auch bei Lungen-, Brust- und Nierenkrebs habe Avastin einen Vorteil für Patienten. Die Anwendungsbeobachtungen und Honorarzahlungen an Ärzte streitet das Unternehmen nicht ab. Man habe damit „weitere Erkenntnisse zur Wirksamkeit und Sicherheit von Avastin unter Praxisbedingungen“ gewinnen wollen.

Dazu bräuchte es aber eigentlich keine Anwendungsbeobachtungen. Denn jeder Arzt ist auch so verpflichtet, Nebenwirkungen bei Medikamenten dem Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) in Bonn zu melden. Wenn Medizinprüfer Windeler auf die Daten schaut, findet er nicht selten pseudowissenschaftlichen Unsinn. So hat die Firma Pascoe in den Jahren 2009 und 2010 beobachten lassen, wie ihr Vitamin-C-Präparat „bei Patienten mit viralen Infektionskrankheiten“ wirkt. „Es ist sicher schon 1000-mal untersucht worden, ob Vitamin C gegen virale Infektionskrankheiten wirkt“, sagt Windeler. „Für Fragen, die bereits beantwortet sind, braucht man keine Studien.“ Dennoch konnten Ärzte, die an der Anwendungsbeobachtung für das Vitamin-C-Präparat Pascorbin mitmachten, bis zu 180 Euro pro Patient verdienen.

„Der Patient bekommt nicht das Produkt, das besser für ihn wäre“

Der Verband Forschender Arzneimittelhersteller (vfa) weist die Kritik an Anwendungsbeobachtungen zurück. Sie seien ein unverzichtbares Instrument für die Arzneimittelforschung unter Alltagsbedingungen. Eine Auswertung der 50 größten Anwendungsbeobachtungen ergibt aber, dass darunter vor allem Analogpräparate zu finden sind, deren medizinischer Zusatznutzen fraglich ist. Auch dies legt den Verdacht nahe, dass mithilfe von Anwendungsbeobachtungen vor allem Medikamente in den Markt gedrückt werden, die im Verdacht stehen, Scheininnovationen zu sein. Unter den Toppräparaten finden sich auch einige, zu denen es günstigere Alternativen gibt. So sollten im Zeitraum 2009 bis 2014 mehr als 20.000 Patienten das Antidepressivum Valdoxan im Rahmen einer Anwendungsbeobachtung nehmen. Die Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für Valdoxan beliefen sich im Jahr 2013 auf 44,5 Millionen Euro. Hätten die Ärzte stattdessen das gleichwertige Venlafaxin AbZ verordnet, hätten die Kassen 35,9 Millionen Euro sparen können.

„Der Patient bekommt nicht das Produkt, das besser für ihn wäre, sondern das, an dem der Arzt besser verdient“, sagt Karl Lauterbach, stellvertretender Vorsitzender der SPD-Bundestagsfraktion. Anwendungsbeobachtungen dürften nur noch stattfinden, wenn sie „von dritter und unabhängiger Stelle geprüft und genehmigt werden“, fordert Lauterbach – damit vertritt er eine Minderheitenposition.

• Der Autor ist Redakteur beim Recherchezentrum correctiv.org. Die Redaktion finanziert sich über Mitgliedsbeiträge und Spenden. Correctiv.org gibt seine Recherchen grundsätzlich kostenlos an andere Medien ab, ist unabhängig und nicht gewinnorientiert.