Berlin. Twitters Quartalszahlen verärgern erneut Anleger: Der Dienst machte ein Minus von 90 Millionen Dollar. Hoffnungsschimmer gibt es kaum.

Als sich am Montag die Nachricht von Roger Willemsens Tod verbreitete, dauerte es nur wenige Minuten, bis SPD-Chef Sigmar Gabriel kondolierte. 114 Zeichen, eine kurze Würdigung des „brillanten Intellektuellen“, zu lesen bei Twitter. Grünenchefin Simone Peter und der nordrhein-westfälische FDP-Chef Christian Lindner hatten schon vorher ihr Leid gezwitschert. Und am Abend, als in Zeitungsredaktionen, in Radio- und TV-Studios die Frage gestellt wurde, was denn „das Internet“ dazu sage, gab Twitter die Antwort. Das ist längst nichts Neues mehr. Dass es bei Twitter um kurze Nachrichten im Internet geht, dass diese gerne auch von Prominenten verschickt werden, das ist mittlerweile allgemein bekannt. Was wirklich hinter dem Unternehmen aus San Francisco steckt und wie es funktioniert, wissen allerdings die wenigsten. Ein Umstand, der Jack Dorsey besonders in diesen Tagen Kopfschmerzen bereitet.

Ins Bild fügten sich die Zahlen, die das Unternehmen am späten Mittwochabend bekannt gab: Im vergangenen Quartal gab es einen Verlust von 90,2 Millionen Dollar nach einem Minus von 125,3 Millionen ein Jahr zuvor. Im gesamten Jahr verlor Twitter wieder mehr als eine halbe Milliarde Dollar.Der Dienst verliert rasant an Nutzern: Twitter meldete für das vierte Quartal 305 Millionen aktive Nutzer, wenn man die Abonnenten eines SMS-Dienstes herausrechnet. Das war ein Rückgang von zwei Millionen Nutzern binnen drei Monaten. Analysten hatten dagegen einen Zuwachs von zwei Millionen erwartet.

Die Konkurrenz ist groß

Das zurückligende Quartal lief demnach mal wieder alles andere als gut. Die Twitter-Aktie erreichte am Montag ihr Allzeit-Tief. 14,87 Dollar war sie da noch wert, obwohl sie noch im vergangenen April über 50 Dollar und zu Bestzeiten 74 Dollar wert war. Die Anleger sind nicht zufrieden mit dem Wachstum der Nutzerzahlen. Diese lesen sich eigentlich gar nicht mal so schlecht, nur ist der Anspruch an Internet-Firmen aus dem Silicon Valley nun mal ein besonders hoher. Die Konkurrenz ist namhaft. Mark Zuckerbergs Facebook wird von 1,4 Milliarden Menschen mindestens einmal im Monat besucht, eine Milliarde verschickt Nachrichten bei Whatsapp. Mittlerweile zeigen 400 Millionen Nutzer ihre Fotos auf Instagram. Und „nur“ 300 Millionen User hingegen senden pro Monat mindestens einen Tweet. Aber nicht nur Anleger sehen sich in ihrem Glauben an den Kurznachrichtendienst erschüttert.

• Der Kurs der Twitter-Aktie in den vergangenen zwölf Monaten:


Nutzer protestieren gegen algorithmische Timeline

Twitter ist seit Jahren um Ideen verlegen, die mehr Wachstum möglich machen, die das Netzwerk aus dem Nischendasein holen könnten. Jack Dorseys jüngste Entscheidungen wurden mehrheitlich als konzeptlos interpretiert. Ende Oktober entließ er beinahe zehn Prozent der Belegschaft, er kündigte an, einen Verzicht auf die Tweet-Obergrenze von 140 Zeichen zu testen. Und bei den von Nutzern als „Favoriten“ markierten Tweets wurde das Symbol von einem gelben Stern auf ein rotes Herz geändert. Zuletzt hagelte es Kritik seitens der Twitter-Community, nachdem die Website „Buzzfeed“ berichtet hatte, der Dienst wolle eine neue Sortierung einführen, bei der die einzelnen Tweets nach Relevanz-Algorithmen angeordnet werden, statt wie bisher einfach nacheinander. Das Schlagwort „#RIPTwitter“ („Ruhe in Frieden, Twitter“) machte daraufhin die Runde.

Twitter-Chef Jack Dorsey.
Twitter-Chef Jack Dorsey. © dpa | Andrew Gombert

Ein Abgezwitscher wäre sicherlich verfrüht. Aber die Diskussion zeigt das Dilemma von Twitter. Das, was viele als die große Stärke von Twitter erkennen, ist für viele andere eine Hürde: die chronologische Timeline, die den Nachrichtenfluss in Echtzeit anzeigt, ungefiltert und öffentlich. Vielen gilt Twitter als zu schnell, zu unübersichtlich, weniger kommunikativ, weniger sexy als andere Netzwerke mit ihren Kommentarfeldern und weichgezeichneten Bildern. Dieser Eindruck ist es wohl auch, der viele Nutzer, die Twitter einmal ausprobiert haben, dazu bringt ihre Accounts verstauben zu lassen. Deutlich größer als bei anderen Netzwerken ist die Zahl der Karteileichen, der ungenutzten Benutzerkonten. Gerade in Deutschland, wo Privatsphäre als hohes Gut angesehen wird, ist auch die große Öffentlichkeit der Tweets wohl ein Hemmnis. Jeder Beitrag kann erst einmal von jedem gesehen und von Suchmaschinen gefunden werden. Die Beiträge lassen sich zwar auch verbergen, als „geschützte Tweets“ vor unerwünschten Lesern schützen, nur macht es kaum jemand. Was wäre schon ein Twitter-Feed ohne zugängliche Tweets?

Twitter ist in Deutschland weniger politisch

In den USA, wo man sich häufiger auch zu politischen Themen öffentlich äußert, ist das Bild ein ganz anderes. Auch etwa in der die Türkei wird Twitter viel häufiger genutzt als in der Bundesrepublik. Aus Angst vor seinen Kritikern ließ Präsident Erdogan den Dienst schon mehrfach sperren. In Deutschland ist Twitter eher im Zusammenhang mit Unterhaltung populär. Mehrere Tausend Tweets begleiten regelmäßig den „Tatort“, das Dschungelcamp oder die Spiele der Fußball-Bundesliga. Das gemeinsame, virtuelle Lästern auf der Couch gehört zum deutschen Twitter genauso wie der vorgelesene Gabriel-Tweet zu Roger Willemsen im „heute-journal“. Tweets im Fernsehen, Tweets über Fernsehen – TV war und ist ein Motor für den Kurznachrichtendienst in Deutschland.

Für Nutzer ist der Live-Charakter des Twitter-Feeds der große Vorteil etwa gegenüber Facebook, wo die Beiträge von einem Algorithmus nach Interessen angeordnet werden. Nicht zuletzt gehört Twitter längst auch zum alltäglichen Arbeitswerkzeug von Journalisten. Wenn irgendwo etwas passiert, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass man es am schnellsten bei Twitter erfährt. Auch wenn sich bei dramatischen Entwicklungen wie den jüngsten Terror-Anschlägen in Paris frische Fakten mit falschen Informationen vermischen - die Timeline ist so etwas wie das Nervensystem der Newsbranche. Das Problem: Allein damit kann ein Dienst kein Geld verdienen.

Facebook hat Twitter Rang abgelaufen

Die Lösung von Twitter ist, von Unternehmen bezahlte Tweets in den Nachrichtenstrom der Nutzer einzuschleusen - ähnlich wie das Facebook macht. Mit dem Versprechen, dass sie durch eine Fokussierung auf bestimmte Zielgruppen auch zu den Interessen der Nutzer passen. Das bringt einen Umsatz von etwa zwei Milliarden Dollar pro Jahr. Aber Twitter steckt nach wie vor in den roten Zahlen fest - auch wenn der Dienst dank seiner Geldreserven noch jahrelange Verluste verkraften könnte. Zum Vergleich: Facebook verbuchte zuletzt einen Quartalsgewinn von 1,56 Milliarden Dollar bei 5,84 Milliarden Dollar Umsatz.

Das liegt auch daran, dass Facebook dem Kurznachrichtendienst in einigen Bereichen den Rang abgelaufen hat. Anfangs verstand es Twitter sehr viel besser, Prominente als Zugpferde und PR-Gesichter mit ins Boot zu holen. Mittlerweile teilen sich die Schönen und Reichen aber immer häufiger via Facebook und Instagram mit. Spannend wird zu sehen sein, in welchem Netzwerk sich die Filmstars feiern, wenn in der Nacht zum kommenden Montag die Oscars verliehen werden. Besonders ärgerlich für Twitter: Zuckerberg und Co. haben nun auch in Sachen Live-Charakter nachgelegt. Nachdem Twitter mit dem Kauf des Video-Streamingdiensts Periscope verstärkt auf Bewegtbild setzte, bastelte Facebook an einem eigenen Streamingdienst. „Facebook live“ ging vor wenigen Wochen an den Start – und gilt wegen der größeren Reichweite schon jetzt als beliebter.

Nach den jüngsten Nutzer-Protesten beruhigte Jack Dorsey seine Community. Man wolle den Nachrichtenstrom nur „verfeinern“, es sei nicht geplant, von jetzt auf gleich alles „neu zu ordnen“. Sollte die wirtschaftliche Entwicklung allerdings so weiterlaufen, wird es mit einer „Verfeinerung“ wohl nicht getan sein.