Duderstadt/Essen. Heinrich Popow ist einer der besten deutschen Behindertensportler. Im Interview spricht er über sein Training für die Paralympics.

Als Heinrich Popow zwölf Jahre alt war, baute er sich mit seinem Bruder ein Baumhaus. Beim Holzhämmern blieb er mit dem Arm am Nagel hängen, der sich tief in das Fleisch am linken Arm hineingrub. „Das kann man heute noch sehen, schau mal, hier.“ Es ist eine Narbe, die Popow, heute 32 Jahre alt, ein Leben lang begleiten wird — und daran erinnert, dass er Dinge einfach gemacht hat, egal ob Leute von ihm dachten, er könnte das nicht.

Denn zu diesem Zeitpunkt hatte er noch eine andere Narbe, die ihn ein Leben lang begleiten sollte: Als er neun Jahre alt war, wurde ihm das linke Bein am Oberschenkel amputiert. Ein bösartiger Tumor hatte sich in den Knochen gefressen. Doch weil er sich eben nicht entmutigen lässt, ist er heute so etwas wie das deutsche Gesicht der Paralympics. In seiner Spezialität 100 Meter Sprint holte er in Athen Bronze (2004), Silber in Peking (2008) und Gold in London (2012). In diesem Spätsommer wird er nach Brasilien fliegen und dort wieder Deutschland vertreten — eben genau weil er ein Bein hat und nicht zwei.

Den Erfolg habe er seinem Vater zu verdanken

Doch an diesem Mittag sitzt er noch entspannt auf einem Tisch in Duderstadt, der Prothesenhauptstadt von Deutschland, weil hier der Hersteller Otto Bock sitzt. „Den Erfolg habe ich auch meinem Vater zu verdanken.“ Er habe ihn immer genauso behandelt wie jeden anderen Jugendlichen in dem Alter. Keine Sonderregelungen. Diese Disziplin hilft ihm heute beim strengen Trainingsablauf: Morgens 5.30 Uhr aufstehen, etwas Leichtes essen, dann das erste Training. Dann Physiotherapie, essen, dann zur Arbeit, ab halb fünf wieder Training, Sauna, Essen, Schlafen.

Eines der wenigen Hobbys neben Fußball, das er noch nebenbei macht, sind die Running Clinics, ein Projekt, das weltweit jungen Menschen mit Behinderung zeigen soll, was sie alles erreichen können, wenn sie sich anstrengen.

In Japan, Indien, Brasilien und anderen Ländern hat er diese Camps bereits gemeinsam mit seinem Prothesenhersteller veranstaltet. Frank-Walter Steinmeier („ne coole Sau“) hat er im vergangenen Jahr bei dessen Kubareise getroffen, neben Angela Merkel („sehr locker und nicht abgehoben“) saß er bei der Auszeichnung der Behindertensportler des Jahres. Heinrich Popow kommt herum auf seiner Prothese. Seine wichtigste Lektion bei diesen Running Clinics, sagt er, ist die vom „Faktor 7“. „Junge Menschen mit Behinderung müssen wissen, dass sie sich siebenmal mehr anstrengen müssen, damit sie aktiv bleiben.“ Zu verführerisch ist es, sitzen zu bleiben, obwohl man mit Prothesen laufen könnte. Schließlich kümmern sich alle rührend um einen. „Der Körper muss merken, dass er benutzt wird.“

Die Paralympics in Rio sollen sein letzter großer Auftritt sein

Er könnte stundenlang von diesen Erlebnissen erzählen, weil sie ihn prägen und weil er andere prägt. Letztlich sind es wohl diese Seminare, die ihn erst zu dem Öffentlichkeitsarbeiter in Sachen „Ehrgeiz“ gemacht haben. Seine Bewunderung gilt Sportlern, die es vor allem durch Ehrgeiz geschafft haben: Cristiano Ronaldo, der nachts in Turnhallen einbrach, um Tore Schießen zu üben, oder Zlatan Ibrahimovic, der sich von ganz unten hochgearbeitet hat.

Diese Biografien passen zu Popow, der mit sieben Jahren mit seinen Eltern aus Kasachstan nach Alsfeld in Deutschland kam und ein Zimmer mit einer anderen Familie in einem Auffanglager teilen musste. Hängen lassen? Gilt nicht. Auch Opfer musste er bringen: Für eine feste Partnerschaft lasse der Leistungssport wenig Zeit und Raum. Doch er könne das noch nicht aufgeben, sagt er. Dazu habe er zu lange gekämpft. Nach seinem Rennen in Rio aber, sagt er, sei Schluss. „Es wird mein letzter großer Auftritt.“

Auf den Boden bringen ihn dann später nur die Freunde. Sie machen sich lustig, wenn sein Gesicht auf einem bekannten Milchprodukt abgebildet ist. „Ich bin die Erdbeere, na und?“, sagt er. Vor ein paar Wochen bekam er einen Brief aus Japan, von einem zwölf Jahre alten Mädchen, das an den Running Clinics teilgenommen und dabei kein Wort mit ihm gesprochen hatte. Sie schrieb auf Englisch, das Papier war mit „Hello Kitty“ verziert. „You have changed my life“, stand da. „Ich habe ihr Leben verändert, das ist doch der Wahnsinn!“