Stockholm. Überlebende des Terrorangriffs von Oslo und Utøya haben ihre Gefühle lange unterdrückt. Beim Gedenken sprechen sie die Erfahrungen aus.

Am Samstag hat Norwegen mit Gedenkveranstaltungen auf den schlimmsten Terror im Lande seit der NS-Besatzungszeit zurückgeblickt. Vor sechs Jahren ermordete der Rechtsradikale Anders Breivik 69 zumeist junge Menschen beim traditionellen Sommercamp der sozialdemokratischen Nachwuchsorganisation auf der Insel Utøya.

Kurz zuvor hatte er mit einer Bombe im Osloer Regierungsviertel acht Menschen getötet. Sein Motiv: Die Arbeiterpartei für deren Bereitschaft, Menschen aus muslimischen Ländern aufzunehmen, zu bestrafen.

Überlebende fuhr jedes Jahr zu Gedenkveranstaltung

Jenen Tag überlebte die damals 20-jährige Jorid Nordmellan auf Utöya zusammengekauert unter einem Bett in einem Schlafsaal mit einer Freundin zusammen. Nur weil sie die Fenster mit Matratzen verbarrikadiert hatten, konnte Breivik kein Tränengas hineinwerfen, um sie hinaus in seine Abschusslinie zu treiben, wie die Jugendlichen, die sich in anderen Gebäuden auf der Insel versteckt hatten.

Die Attentate von Oslo und Utøya

Es ist eine Art 11. September für das Land. Der Rechtsterrorist Anders Behring verübt in Oslo und auf einer Insel vor der Stadt zwei Anschläge – im Kampf gegen die „Multikulti-Kultur“. Sein Amoklauf beginnt in Oslo. Im Regierungsviertel zündet Breivik eine mehrere hundert Kilogramm schwere Bombe.
Es ist eine Art 11. September für das Land. Der Rechtsterrorist Anders Behring verübt in Oslo und auf einer Insel vor der Stadt zwei Anschläge – im Kampf gegen die „Multikulti-Kultur“. Sein Amoklauf beginnt in Oslo. Im Regierungsviertel zündet Breivik eine mehrere hundert Kilogramm schwere Bombe. © dpa | Julia Wäschenbach
Die Bombe hatte Breivik in einem Lieferwagen deponiert und vor dem 17-stöckigen Hauptsitz der Regierung zur Explosion gebracht. Auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat damals sein Büro in dem Haus. Durch die Explosion werden alle Fensterscheiben zerstört. Trümmerteile schleudern Hunderte Meter weit durch die Luft. Acht Menschen sterben.
Die Bombe hatte Breivik in einem Lieferwagen deponiert und vor dem 17-stöckigen Hauptsitz der Regierung zur Explosion gebracht. Auch der sozialdemokratische Ministerpräsident Jens Stoltenberg hat damals sein Büro in dem Haus. Durch die Explosion werden alle Fensterscheiben zerstört. Trümmerteile schleudern Hunderte Meter weit durch die Luft. Acht Menschen sterben. © dpa | Norwegian Police/handout
Nach dem Anschlag in Oslo macht sich Breivik auf den Weg nach Utøya. Die Insel liegt etwa 40 Kilometer von Oslo entfernt.
Nach dem Anschlag in Oslo macht sich Breivik auf den Weg nach Utøya. Die Insel liegt etwa 40 Kilometer von Oslo entfernt. © dpa | Lasse Tur
Der Massenmörder kommt mit einer Fähre auf die Insel. Die MS Thorbjorn verkehrt zwischen der Insel und dem Festland. Breivik trägt einen Polizeipullover und eine kugelsichere Weste. Auch eine Pistole und eine automatische Waffe hat er bei sich.
Der Massenmörder kommt mit einer Fähre auf die Insel. Die MS Thorbjorn verkehrt zwischen der Insel und dem Festland. Breivik trägt einen Polizeipullover und eine kugelsichere Weste. Auch eine Pistole und eine automatische Waffe hat er bei sich. © dpa | Julia Wäschenbach
Hunderte Jugendliche machen auf der Insel Urlaub in einem Sommercamp der regierenden sozialdemokratischen Partei. Sie werden von Breivik angesprochen. Er wolle sie über den Bombenanschlag in Oslo informieren. Dann eröffnet Breivik das Feuer.
Hunderte Jugendliche machen auf der Insel Urlaub in einem Sommercamp der regierenden sozialdemokratischen Partei. Sie werden von Breivik angesprochen. Er wolle sie über den Bombenanschlag in Oslo informieren. Dann eröffnet Breivik das Feuer. © dpa | Vegard Wivestad Groett
Etwa eineinhalb Stunden lang läuft Breivik über die Insel, schießt auf die Jugendlichen und ihre Betreuer, auch auf jene, die ins Wasser springen und zum 600 Meter entfernten Festland flüchten wollen.
Etwa eineinhalb Stunden lang läuft Breivik über die Insel, schießt auf die Jugendlichen und ihre Betreuer, auch auf jene, die ins Wasser springen und zum 600 Meter entfernten Festland flüchten wollen. © dpa | Julia Wäschenbach
Auch im Schulhaus verstecken sich die Kinder, dicht gedrängt, da es nur wenige Hütten gibt.
Auch im Schulhaus verstecken sich die Kinder, dicht gedrängt, da es nur wenige Hütten gibt. © dpa | Julia Wäschenbach
Andere kauern unter Felsvorsprüngen oder suchen hinter ein paar Büschen Schutz  so wie der damals 15-jährige Sindre Lysø. Er flüchtet mit einem Mädchen, das er nicht kennt, vor dem Attentäter. „Wir hatten Angst, aber wir wussten nicht, wovor wir uns verstecken“, erzählt er.
Andere kauern unter Felsvorsprüngen oder suchen hinter ein paar Büschen Schutz so wie der damals 15-jährige Sindre Lysø. Er flüchtet mit einem Mädchen, das er nicht kennt, vor dem Attentäter. „Wir hatten Angst, aber wir wussten nicht, wovor wir uns verstecken“, erzählt er. © dpa | Julia Wäschenbach
Bis die Polizei auf Utøya eintrifft, vergeht viel Zeit. Anwohner starten mit ihren Privatbooten in Richtung der Insel, um Überlebende aus dem Wasser zu retten. Auch Jorn Øverby eilt zur Hilfe. In seinem Boot rast er immer wieder Utøya entgegen, zieht einen Körper nach dem anderen aus dem kalten Fjord.
Bis die Polizei auf Utøya eintrifft, vergeht viel Zeit. Anwohner starten mit ihren Privatbooten in Richtung der Insel, um Überlebende aus dem Wasser zu retten. Auch Jorn Øverby eilt zur Hilfe. In seinem Boot rast er immer wieder Utøya entgegen, zieht einen Körper nach dem anderen aus dem kalten Fjord. © dpa | Julia Wäschenbach
Bevor die Polizei eintrifft, rettet Øverby so 30 Jugendliche. Durch die Insel wird er immer an das Attentat erinnert werden.
Bevor die Polizei eintrifft, rettet Øverby so 30 Jugendliche. Durch die Insel wird er immer an das Attentat erinnert werden. © dpa | Julia Wäschenbach
Als schließlich die Polizei auf der Insel eintrifft, wird Anders Breivik nach wenigen Minuten gestellt. Er ergibt sich und wird festgenommen. 69 Menschen im Alter von 14 bis 51 Jahren sind tot.
Als schließlich die Polizei auf der Insel eintrifft, wird Anders Breivik nach wenigen Minuten gestellt. Er ergibt sich und wird festgenommen. 69 Menschen im Alter von 14 bis 51 Jahren sind tot. © dpa | Joerg Carstensen
Der Rechtsterrorist Anders Behring Breivik gesteht beide Anschläge mit 77 Toten. Er wird zu einer Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt.
Der Rechtsterrorist Anders Behring Breivik gesteht beide Anschläge mit 77 Toten. Er wird zu einer Höchststrafe von 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. © imago/ZUMA Press | imago stock&people
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Nordmellan hatte lange mit den Erinnerungen zu kämpfen. Um nicht allein mit ihren Gefühlen zu sein, ist sie jedes Jahr zur Gedenkveranstaltung in Utöya gefahren. „Ich bin jedes Jahr da gewesen, das war notwendig. Letztes Jahr hatte ich dann aber das Gefühl, ich brauche es nicht mehr, sondern komme auch so durch diesen Tag“, sagt sie. Inzwischen steht die Sozialdemokratin mitten im Leben. Sie hat Ehemann Lasse und Sohn Haagen an ihrer Seite. Bei den Wahlen im Herbst kandidiert sie für einen Parlamentssitz.

Überlebende hatten Erfahrungen lange unterdrückt

„Es gab genau zwei Fraktionen von Überlebenden, die, die sich entschlossen, mit der Politik völlig aufzuhören und teils heute noch krankgeschrieben sind und sich wegen Angstzuständen nicht aus ihren Wohnungen trauen. Und die anderen, die mit noch mehr Arbeit und politischem Engagement versucht haben, das zu überstehen“, erzählt Nordmellan.

Norwegens Kinderhilfswerk hat Überlebende nach dem Anschlag 2011 und kürzlich interviewt. Es kommt zum Ergebnis, dass junge Überlebende ihre Gefühle lange unterdrückten, um der sozialdemokratischen Parteiführung entgegenzukommen. Die hatte vor allem Liebe und Zusammenhalt gepredigt. Zornige Aussprüche waren tabu. Heute brechen umso mehr Wut und Angst bei Überlebenden auf.

Hat Norwegen etwas aus der Tat gelernt?

Über Breivik (38), der unlängst wieder Aufmerksamkeit auf sich zog mit einem Gerichtsprozess zu seiner vermeintlich unmenschlichen Isolationshaft und mit der Änderung seines Namens in Fjotolf Hansen, wird in Norwegen weiterhin viel geredet. Auch den umstrittenen Prozess zu seinen Haftbedingungen fand Nordmellan richtig: „Der war notwendig. Wir hatten noch nie einen solchen Gefangenen in Norwegen. Es musste geklärt werden, ob gegen seine Menschenrechte verstoßen wird, er hätte recht haben können, aber nun hat das Gericht glücklicherweise entschieden, dass er nicht recht hat.“

Ob Norwegen etwas aus der Tat gelernt hat? „Die Frage ist falsch gestellt. Was wir damals gelernt haben ist, dass man nicht eine Volksgruppe für die Tat Einzelner verurteilen kann. Man kann Norwegen nicht verantwortlich machen für Breivik. Das Gleiche gilt auch für islamischen Terror Einzelner, für den nicht die Volksgruppe verantwortlich gemacht werden kann“, sagt Nordmellan. Die rechte Fortschrittspartei, in der Breivik Mitglied war, sitzt heute in der Regierung. Aber Nordmellan will auch der Rechtsaußenpartei nichts vorwerfen. „Darüber, dass Breivik da Parteimitglied war, reden wir hier nicht. Das wäre die gleiche Verallgemeinerung, wie wenn man alle Moslems für etwas verurteilt, was Einzelne tun.“

Ein Dorn im Auge ist ihr aber der endlose Denkmalstreit. Die bürgerliche Regierung hat das bereits bewilligte Projekt „Wunde der Erinnerung“ gekippt. Da sollte eine Landzunge vor Utöya zerschnitten werden. Man wolle keinen Rechtsstreit mit den Anwohnern, denen es zu auffällig ist, begründete die Regierung. „Ich habe das alte Projekt geliebt und bin sehr enttäuscht, dass es nicht verwirklicht wird“, sagt Nordmellan.