Berlin. Die Verlegerin Anna Müller hat erst als Teenager erfahren, wie berühmt ihr Vater Heiner Müller war. Nun nähert sie sich seinem Werk.

Die Frau, die das verlegerische Erbe ihres großen Vaters fortführen will, wohnt in einer Altbauwohnung in Berlin-Kreuzberg. Anna Müller (24) öffnet die Tür. Ein lichtdurchflutetes Loft mit großen Fenstern und hohen Bücherregalen, in dem sie seit ihrem ersten Geburtstag mit ihrer Mutter, der Fotografin Brigitte Maria Mayer (52), lebt. Ihr Vater ist lange tot: Heiner Müller (1929–1995) war der bedeutendste Dramatiker der DDR, seine Bühnenstücke wie „Quartett“, „Germania, Tod in Berlin“ oder „Hamletmaschine“ werden auf der ganzen Welt gespielt. Nun drängt auch die Tochter in die Öffentlichkeit.

Sie war drei, als der Vater an Krebs starb. Seit einem Jahr ist sie Verlegerin – Jungverlegerin, wie es so schön heißt. Mit Johannes Finke (42), der in den 90er-Jahren den Lautsprecher-Verlag gründete und Partys für den Oberhausener Künstler Christoph Schlingensief (1960–2010) inszenierte, hatte sie vor einem Jahr die Idee zum „Herzstückverlag“ – benannt nach einem Kurzdrama ihres Vaters.

Sammelband aus Kurzgeschichten

Das erste Buch in diesem neuen Verlag, „Nutzloses Gesindel“, soll am 10. Juli erscheinen. Das Startkapital von 6000 Euro für das Debüt kam per Crowdfunding zusammen. Es ist ein Sammelband aus Kurzgeschichten, Gedichten, Prosastücken, der vor allem Leser mit Sinn für humorige Episoden finden soll. Das Buch präsentiert Texte von Journalisten, Comedians und Politikern über eine berüchtigte Berliner Bar namens „Kingsize“. Eine Tanzkneipe, in der man Küsse wie Treuepunkte sammeln kann und um die sich Storys ranken, die jede Übertreibung überflüssig machen.

„Ein Zuhause für Edelkaputte, die eigentlich noch kaputter sind als Kaputte“, schreibt der Autor und Comedian Oliver Polak (41). Das ist der poetische Teil. Der reale handelt von einem 60 Quadratmeter großen Ladenlokal, das ab Mitternacht auch wochentags rappelvoll ist. In dem man schwitzt, trinkt, flirtet, bis es draußen dämmert, und der Türsteher ruft: „Raus mit euch, ihr nutzloses Gesindel.“ Für die letzten Gäste ist das dann die allerletzte Ansage zu gehen. Daher auch der Titel für das Buch.

Feierfreudiges Fräulein

Für Anna Müller ist das „Kingsize“ kein beliebiger Tresen, sondern eine Art Zuhause, wild „wie eine WG-Party“, behaglich wie ein Wohnzimmer. Dort, wo sie den Ruf eines feierfreudigen Fräuleins genießt, entstand auch die Idee, einen eigenen Verlag zu gründen. „Es muss um vier Uhr morgens gewesen sein. Ich erzählte Johannes, dass mich Bücher interessieren, sehr sogar, aber nicht so sehr das Schreiben. So kamen wir auf den Verlag.“ Johannes Finke, der sich eigentlich komplett aus dem Verlagsgeschäft zurückgezogen hatte, ließ sich von ihrer Euphorie anstecken.

„Anna hat es mir leicht gemacht, weil sie viel von dem hat, was mich an damals erinnert“, sagt Finke und denkt an die Tage, als er selbst zum Verleger wurde. „Das Spontane, Chaotische, Ehrliche.“ Die Herzlichkeit und auch die Fähigkeit zum Smalltalk hat Anna Müller von ihrem Vater geerbt, sagt ihre Mutter. Galt er nicht als eigenbrötlerischer Denker, als Pessimist? „Nein, eigentlich hatte er immer gute Laune“, sagt Anna Müller, wohl ein bisschen vom Hörensagen. Denn Erinnerungen an ihren Vater schöpft sie aus Erzählungen – als er starb, war sie ja noch ein kleines Kind.

Buchladen aufmachen

Seiner Tochter, die er sehr geliebt hatte, wünschte er drei Dinge. „Ein bisschen asozial, ein bisschen höflich zu sein – und die Fähigkeit zur Distanz. „Wie wichtig und berühmt ihr Vater war, erkannte sie erst als Teenager, als sie den Namen ihres Vaters in einem literarischen Nachschlagewerk ihrer Schulbibliothek fand. Sie besuchte das Internat Schloss Salem am Bodensee. „Ich wollte mal schauen, ob er überhaupt in dieser Enzyklopädie ist. Und da war er. Mit langer Beschreibung und Foto.“

Ihr erster Gedanke damals: „Huch!“ An die Texte ihres Vaters tastet sie sich langsam heran. Sie las erst seine Gedichte, dann die Biografie, jetzt die Textsammlung. Ihr Buchverlag ist ihr größtes Projekt. Aber sie setzt nicht alles auf die Karte Literatur. Müller will unbedingt ihr Studium der Kulturwissenschaften beenden. Und vielleicht irgendwann einen Buchladen aufmachen.