Basel/Freiburg. In der Schweiz bekommen Patienten auch ohne Besuch beim Arzt Hilfe am Telefon. Das Modell könnte auch in Deutschland Einzug halten.

Draußen auf der Straße lärmen eine Baustelle und der Verkehr, aber hier drinnen ist es still. Die Fenster sind geschlossen, die Jalousien heruntergelassen. Leises Stimmengemurmel ist zu hören und das Klacken von Computertastaturen. So klingt keine Arztpraxis, in die pro Tag 2000 bis 3000 Menschen kommen. Tatsächlich betritt kein einziger den grauen Teppichboden im dritten Stock dieses Gebäudes in der Basler Innenstadt. Die Ärzte der Firma Medgate behandeln Patienten nur am Telefon.

„Unsere Ärzte können quasi mit den Ohren sehen“, sagt Timo Rimner, Leitender Arzt im Telemedizin-Center von Medgate. Seine Kollegen stellen Rezepte und Krankschreibungen aus. „Die große Mehrheit der Fälle lässt sich durch gezielte Befragung und durch den Blick auf Fotos behandeln, die der Patient uns mit seinem Smartphone übermittelt“, weiß Rimner. Der Rest wird an reale Praxen und Krankenhäuser überwiesen. Tag und Nacht ist das Callcenter besetzt, die meisten Anrufe kommen in den Morgenstunden. Nie soll es länger als 20 Sekunden dauern, bis ein Patient sein Anliegen schildern kann. „Doc around the clock“ steht auf Rimners Visitenkarte.

Baden-Württemberg geht voran

Was in der Schweiz zum Alltag gehört, ist in Deutschland bisher verboten. In der ärztlichen Berufsordnung steht, dass ein Mediziner nicht nur mit Hilfe von „Kommunikationsmedien“ behandeln darf. Ein Patient muss also immer erst einmal vor ihm in der Praxis sitzen. Erst danach dürfen beide telefonieren oder Mails austauschen. Die Landesärztekammer in Baden-Württemberg hat nun als erste diese Regel aufgehoben.

Sie will ihren Ärzten, die in Deutschland wohnen und bei Medgate in der Schweiz arbeiten, ermöglichen, von zu Hause aus zu arbeiten. Darüber hinaus sollen zwei Modellversuche zeigen, ob das Schweizer Prinzip auch hierzulande funktioniert. Andere Bundesländer, darunter Schleswig-Holstein, wollen folgen. Am heutigen Mittwoch will der Deutsche Ärztetag in Freiburg das Thema grundsätzlich beraten.

Montagnachmittag, eine 46-jährige Frau ist am Telefon. Sie spüre ein Kribbeln im Arm, sagt sie, bis hinein in die Fingerspitzen. Die Mitarbeiterin von Medgate, die die Anrufe vorsortiert, sieht auf dem Bildschirm Adresse, Alter und bisherige Behandlungen. „Fühlen Sie sich als Notfall?“, fragt sie. Dann könnte die Frau sofort mit einem Arzt telefonieren. Nein, sagt die Patientin, so dringend sei es nicht. Weil gerade alle Medgate-Mediziner im Gespräch sind, soll ein Arzt sie am nächsten Morgen zurückrufen.

Technisch möglich wäre Fernbehandlung bereits

Technisch möglich wäre die Fernbehandlung längst auch in Deutschland. Bisher aber haben sich die Ärzte nicht dafür interessiert. Jetzt aber machen ihnen immer mehr private Firmen den Platz streitig. Allgemeine Gesundheitsberatung über Internet und Handy gibt es schon, nur konkrete Therapieangebote sind verboten.

„Wir können uns der Entwicklung nicht verschließen“, hat Ulrich Clever erkannt, Präsident der Ärztekammer in Baden-Württemberg. „Die Alternative wäre, dass immer mehr Patienten in irgendwelchen zweifelhaften ausländischen Callcentern anrufen.“ Das dürfe nicht sein. Die Fernbehandlung könne aber immer nur eine Ergänzung zum persönlichen Arztgespräch sein, betont Clever. Niemand solle gezwungen werden, nur noch zum Telefonhörer zu greifen.

In der Schweiz ist das anders. Dort verpflichten viele Versicherungen ihre Kunden, einen vorgezeichneten Behandlungsweg einzuschlagen, der immer in einem Callcenter beginnt. Hier setzt das Geschäftsmodell von Medgate an. „Medizinische Leistungen aus der Distanz zu erbringen, entlastet volle Wartezimmer und Notaufnahmen“, ist Marketingdirektor Cédric Berset überzeugt. Trotzdem sei rund um die Uhr ein Mediziner erreichbar.

Callcenter hilft Kosten senken

„Telemedizin, wie wir sie betreiben, hat einen kostendämpfenden Effekt auf die Gesundheitskosten“, erklärt Berset. „Sie sorgt auch dafür, dass eine koordinierte Behandlung stattfindet.“ Es gibt keine Doppeluntersuchungen und kein Ärztehopping. Experten haben errechnet, dass ein Patient in einem telemedizinischen Versicherungsmodell zehn bis zwanzig Prozent weniger Kosten verursacht. Patienten, die so ein Modell nutzen, erhalten einen reduzierten Versicherungsbeitrag.

Die deutschen Krankenkassen beobachten diese Entwicklung aufmerksam. „Es ist an der Zeit, dass die Ärzteschaft den Blick für Online- und Fernbehandlungen weitet“, lobt der Vizechef des Spitzenverbands der gesetzlichen Kassen, Johann-Magnus von Stackelberg. Ein Modellversuch sei der richtige Weg, dies auszuprobieren. Bevor die Erfahrungen daraus nicht ausgewertet seien, könne es aber keine flächen­deckende Einführung geben.

Künstliche Intelligenz soll Aufgaben übernehmen

Medgate will bei den deutschen Modellversuchen mitmachen, aber die Schweizer Firma denkt längst weiter. Über die App auf dem Smartphone soll es bald Videotelefonate mit den Patienten geben. Mit einer gezielten Auswertung aller bisher gesammelten Behandlungsdaten sollen später dann sogar diese Gespräche überflüssig werden: „Die Patienten sollen schon ohne einen Anruf wissen, wohin sie sich am besten wenden“, sagt Marketingchef Berset. Die künstliche Intelligenz des Computers würde dann auch den Arzt am Telefon ersetzen.