Ditzingen/Marbach. Viele verbinden mit den gelben Heften voll schwer verdaulicher Texte nicht nur Gutes. Dennoch: Reclam brummt – schon seit 150 Jahren.

Goethe, Schiller, Lessing, Storm. Generationen von Schülern definieren ihren – nicht selten erzwungenen – Zugang zu den Klassikern der Weltliteratur auch über eine Farbe: Gelb. Grellgelb. Wie diese schmucklosen, aber günstigen Büchlein des Reclam-Verlags, um die kein Jugendlicher in Deutschland seit etlichen Jahrzehnten herumgekommen sein dürfte.

In diesem Jahr feiert das Unternehmen in Ditzingen bei Stuttgart das 150-jährige Bestehen seiner so gehassten wie geliebten Universal-Bibliothek, der ältesten Reihe auf dem deutschen Buchmarkt.

Gelb wird erst später zum Markenzeichen

Einen Rosenholzton haben die Büchlein in den ersten 50 Jahren, später sind es diverse Chamois- oder Elfenbein-Schattierungen. Erst 1970 wird es kraftvoll: Das markante Gelb wird zum Markenzeichen. Die Initialzündung für den Verlag ist da schon mehr als 100 Jahre her: Am 9. November 1867 tritt eine Änderung der Urheberrechtsregelung in Kraft.

Damit wird Autoren eine Schutzfrist für die Veröffentlichung ihrer Werke von 30 Jahren nach ihrem Tod gewährt. Die wichtigsten Klassiker werden gemeinfrei. Reclams Universal-Bibliothek wächst rasant, die Büchlein sind günstig, erobern Schulen und Unis.

Ganz oben nach wie vor: “Wilhelm Tell“

Erfolgreich dabei in „Reclams Universalbibliothek“ ist Goethes „Faust“. Mit 4,9 Millionen verkauften Exemplaren belegt das Buch in der Top-10-Liste seit 1948 nach Verlagsangaben heute noch Platz zwei. Für die Zahlen davor hat der Verlag keine verlässlichen Zahlen.

Ganz vorn steht Schillers „Wilhelm Tell“ mit 5,4 Millionen Exemplaren. Die Schulklassiker eben, genauso wie Kellers „Kleider machen Leute“ und Lessings „Nathan der Weise“ mit jeweils 4,4 Millionen Büchern auf den Plätzen drei und vier. Und auch Sachbücher zu zeitpolitischen Themen hat der Verlag im Sortiment – dann allerdings nicht im markanten Gelb.

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Hinter der Marke Reclam stehen lange zwei Verlagshäuser – eins in Leipzig, eins in Stuttgart – die aber weder miteinander arbeiten noch miteinander kommunizieren. Die doppelte „Reclams Universalbibliothek“ ist auch eine deutsch-deutsche Geschichte: Viele Verleger zieht es damals in den Westen.

Reclam-Büchlein verraten oft viel über die, die damit arbeiteten

Doppelexistenzen in Ost und West gibt es auch bei Brockhaus oder Insel. Der alte Reclam bekommt auch in der sowjetischen Zone eine Lizenz, es erscheinen Titel von Goethe, Schiller, Puschkin. In Ernst Reclams Neugründung in Stuttgart beginnt der Wiederaufbau mit acht Titeln für württembergische Schulen. 1970 entsteht hier das Markenzeichen: der grellleuchtende Umschlag.

Reclam-Büchlein wurden schon immer gerne bekritzelt oder mit Notizen versehen.
Reclam-Büchlein wurden schon immer gerne bekritzelt oder mit Notizen versehen. © Reclam/Museum für Gedankenloses/Montage: fmg | Reclam/Museum für Gedankenloses

Für das Deutsche Literaturarchiv in Marbach bei Stuttgart haben die Reclam-Büchlein einen ganz besonderen Reiz. Sie verraten viel, etwa über Schriftsteller, die damit arbeiteten, wie Ulrich von Bülow, der Leiter des Archivs berichtet. „Im Gegensatz zu anderen Büchern sind viele Reclam-Hefte mit Markierungen und Notizen versehen, manchmal regelrecht zerlesen. Man sieht, dass mit ihnen gearbeitet wurde.“ Gerade solche Hefte seien natürlich „für die Forschung von viel größerer Bedeutung als wertvolle Werkausgaben, die ihr stolzer Besitzer nur ins Regal gestellt hat“.

Eine Besonderheit ab 1912: Reclam-Verkaufsautomaten

Nur zwei Silbergroschen kosten die ersten Reclam-Büchlein im 19. Jahrhundert. Die Universalbibliothek wird rasch ausgebaut. Pro Jahr erscheinen 140 Nummern – neben Klassikern der deutschen und europäischen Literatur bald auch antike Texte, philosophische Werke, Unterhaltungsliteratur, Gesetzesausgaben oder Operntexte.

1912 stellt Reclam erstmals Verkaufsautomaten auf, bis 1917 sind fast 2000 von ihnen in Betrieb. Dann kommen die Restriktionen: Die Nazis setzen den Verlag ab 1933 unter Druck, Werke jüdischer oder politisch missliebiger Autoren müssen raus aus dem Programm.

Das Reclam-Heft als kostengünstige Lektüre

Reclam-Büchlein finden sich laut von Bülow in etlichen Autorenbibliotheken, die in Marbach der Forschung zur Verfügung stehen. „Viele Schriftsteller oder Philosophen hatten in ihrer lektüredurstigen Frühzeit wenig Geld und griffen gern zu Reclam-Heften.“

Auch persönlich verbindet von Bülow eine besondere Erinnerung mit Reclam: So kaufte er sich als DDR-Bürger im November 1989 in Westberlin von seinem Begrüßungsgeld das Reclam-Buch „Abschied vom Prinzipiellen“ des Philosophen Odo Marquard. (dpa)