Sydney/Berlin. Mehr als 4400 Opfer von sexuellem Missbrauch durch Priester haben sich in Australien gemeldet. Es gut um Fälle aus mehr als 50 Jahren.

Peter Blenkiron ist heute 52 Jahre alt. Aber das, was er erlebte, als er elf war, hat ihn bis heute nicht losgelassen. In der Diözese Ballarat, westlich von Melbourne, in Australien hatte ihm der Pfarrer, der gleichzeitig sein Lehrer war, immer sehr schwere Hausaufgaben gegeben. Wenn er die nicht schaffte, wurde er bestraft. Es begann mit unsittlichen Berührungen bis hin zu Vergewaltigungen. „Die Selbstmordrate in Ballarat“, sagt er, „ist höher als die der Verkehrsunfälle.“ Er selbst sieht sich noch heute als „gebrochenen Mann“.

Gesprochen hat Blenkiron vor der „Königlichen Kommission für Institutionelle Reaktion auf Kindesmissbrauch“. Diese wurde vor vier Jahren eingerichtet und begann am Montag mit einer dreiwöchigen Anhörung. Diese gilt als weltweit einzigartig und historisch: Zum ersten Mal legt ein Arm der katholischen Kirche sämtliche Aufzeichnungen offen und zeigt das Ausmaß des sexuellen Missbrauchs. Die Zahlen sind schockierend und laut australischer Kirche „unentschuldbar“.

Über 4000 Anschuldigungen gegen Priester

Den Daten der Kommission nach hat es zwischen den Jahren 1980 und 2015 in Australien genau 4444 Anschuldigungen gegenüber Priestern gegeben. Demnach sind seit dem Jahr 1960 fast 2000 katholische Geistliche für Missbrauch der Kirche gegenüber angezeigt worden. Das Durchschnittsalter der Opfer war 10,5 Jahre (bei Mädchen) und 11,5 Jahre (bei Jungen).

Involviert seien bis zu sieben Prozent der katholischen Priester in solche Taten. Besonders betroffen soll demnach der katholische Orden „St. John of God Brothers“ sein: Bis zu 40 Prozent der Mitarbeiter in diesem Orden sollen Täter gewesen sein, zum Teil über Jahre.

Es dauert lange bis ein Opfer spricht

Francis Sullivan, der Vorsitzende der katholischen Wahrheitskommission, konnte kaum seine Tränen zurückhalten, als er die Zahlen kommentierte. Selbst wenn diese Anschuldigungen an die Kirchenoberhäupter herangetragen wurden, sei meist wenig passiert. Die Täter wurden lediglich versetzt in andere Gemeinden und konnten weiter Missbrauch begehen. „Die katholische Kirche hat massiv versagt darin, die ihnen anvertrauten Kinder zu schützen“, sagt er und fügt an: „Wir als Katholiken schämen uns.“

Seitdem die Kommission im Jahr 2013 gegründet wurde, werden dort Opfer und ihre Geschichten über sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche gehört. Im Durchschnitt braucht es 33 Jahre, bis ein Opfer von den Taten spricht, viele aber sprechen gar nicht, weil sie Selbstmord begangen haben oder in den Alkoholismus abgerutscht sind. Missbrauchsopfer Peter Blenkiron hofft deshalb, dass jetzt „Taten folgen“. Er wolle nicht, dass die Täter ungestraft davonkommen, während er noch heute unter den Folgen leide.

Skandalserie begann in den USA

Das australische Beispiel ist Teil einer weltweiten Untersuchung in Fällen von sexuellem Missbrauch, die kurz nach der Jahrtausendwende in Boston begann. Dort deckten Journalisten auf, dass 90 Priester an circa 1000 Kindern und Jugendlichen schuldig geworden waren. Der Bischof von Boston trat zurück und der Film „Spotlight“ über diese Ereignisse gewann einen Oscar.

Nach diesen Veröffentlichungen wurden Hunderte Fälle in vielen katholischen Hochburgen bekannt, darunter in Chile, Italien und Irland. Dort wurden allein im Jahr 2011 etwa 160 Missbrauchsfälle durch 85 Priester in sechs Diözesen gemeldet. In Deutschland stellten bis Ende 2013 rund 1300 Betroffene einen Antrag auf Entschädigung. Papst Franziskus ist der erste, der eine „Päpstliche Kommission“ einsetzte und für Missbrauch „null Toleranz“ einforderte.

„Das ist Mord an der Seele“

So selbstverständlich das heute klingt, der Australier Thomas Doyle wurde als Vertreter des Vatikans noch 1985 entlassen. Er hatte einen Bericht über Kindesmissbrauch an seinen Dienstherrn weitergeleitet. „Das größte Versäumnis der katholischen Kirche ist“, sagte er in Sydney, „das komplette Ausmaß des spirituellen Schadens nicht begriffen zu haben.“ Er habe mit einem der Opfer gesprochen. „Als ich in sein Gesicht sah, war es komplett leer. Das ist Mord an der Seele.“