Washington. Chicago zieht Bilanz: 762 Morde gab es im vergangenen Jahr. Es ist die höchste Gewaltrate seit zwei Jahrzehnten. Ein trauriger Rekord.

  • 762 Tote – über 50 Prozent mehr als 2015
  • Toten-Zahl ist die höchste seit 20 Jahren
  • Ein Ende ist nicht in Sicht

Der Trauermarsch, der sich am Silvester-Tag bei Eiseskälte über die Michigan Avenue von Chicago schleppte, hatte etwas von Passionsspielen.

Angeführt von Pater Michael Pfleger trugen Demonstranten mehrere hundert Holzkreuze auf dem Rücken. Jedes Kreuz symbolisiert eine Tragödie, die selbst im notorisch gewalttätigen Amerika einzigartig ist.

Mehrere hundert Holzkreuze trugen Demonstranten durch die Straßen von Chicago.
Mehrere hundert Holzkreuze trugen Demonstranten durch die Straßen von Chicago. © dpa | Ashlee Rezin

Mit 762 Toten – über 50 Prozent mehr als 2015 – hat die Schusswaffen-Epidemie in der Stadt am Michigan See im abgelaufenen Jahr schwindelerregende Dimensionen angenommen. Die Toten-Zahl ist die höchste seit 20 Jahren. In Chicago starben damit 2016 mehr Menschen im Kugelhagel als in den deutlich größeren Metropolen Los Angeles und New York zusammengerechnet.

Straßengangs ziehen durch Chicago

Ein Ende ist nicht in Sicht. Als Polizeichef Eddie Johnson die traurige Bilanz am Sonntag vorstellte, zu der auch 4331 Schusswaffen-Opfer zählen, die teils schwer verletzt überlebten, waren bereits die ersten drei Toten und 15 Angeschossenen des neuen Jahres in die Statistik eingegangen.

Nach den Gründen gefragt, lieferte Johnson oft gehörte Argumente. 600 verfeindete Straßengangs ziehen bei ihren über Generationen vererbten Fehden immer wieder Kinder, Alte, Schwangere und andere Unbeteiligte in Mitleidenschaft, die „zur falschen Zeit am falschen Ort waren“.

Jedes Kreuz steht für ein Opfer von Gewalt.
Jedes Kreuz steht für ein Opfer von Gewalt. © dpa | Ashlee Rezin

Das Gros der Morde ereignete sich in fünf besonders armen und überwiegend von Afro-Amerikanern bewohnten Stadtvierteln im Süden und Westen der 2,7 Millionen Einwohner zählenden Metropole. „Menschen ohne Hoffnung und Perspektive schießen sich gegenseitig nieder“, hatte Johnson dazu schon vor Wochen gesagt. Obwohl auf Mord im Bundesstaat Illinois eine Strafe von 45 Jahren steht; jedenfalls auf dem Papier.

Kein Geld für mehr Polizeibeamte

„Viele Täter sind alte Bekannte, die bereits mehrfach wegen Waffengewalt auffällig geworden sind“, sagt Johnson. Sie länger hinter Gittern zu halten, ist eine Polizei-Forderung. Derzeit wird der Besitz einer illegalen Waffe im Schnitt mit sieben Jahren bestraft. Summiert sich das Vorstrafenregister, können es bis zu 30 werden. Theoretisch. Denn die Gefängnisse sind bis zum Bersten gefüllt.

Kann mehr Ordnungsmacht auf den Straßen helfen? In New York kommen auf 100.000 Einwohner etwa 600 Cops. In Chicago sind es 400. Bis 2018 sollen 1000 Beamte zusätzlich eingestellt werden. Die Personal-Offensive – auf dann insgesamt 13.500 Beamte – ist bisher nur ein Plan. Bürgermeister Rahm Emanuel hat kein Geld im chronisch defizitären Haushalt.

Präsident Obamas früherer Stabschef im Weißen Haus laviert oft zwischen Polizeischelte (wenn Beamte überhastet zur Waffe greifen und töten) und pauschaler Medien-Kritik (wenn Berichterstattung über polizeiliche Übergriffe zu defensivem Verhalten der Cops führt). Dass der künftige Präsident Donald Trump getönt hat, die „Horror-Show“ in Chicago könne durch härteres Eingreifen der Sicherheitskräfte „binnen einer Woche“ beendet werden, quittiert der Demokrat mit Kopfschütteln.

„Tödlicher Querschläger wahrscheinlich als Schul-Abschluss“

Die Fakten sprechen dagegen. Zwischen 2001 und heute kamen in Chicago rund 7900 Menschen durch Waffengewalt um. Fast doppelt so viele Opfer wie das amerikanische Militär im Irak-Krieg zu beklagen hatte. Auch darum wird die drittgrößte Stadt der USA „Chi-Raq“ genannt – eine Wortbildung aus Chicago und Irak. In Bürgerumfragen manifestiert sich die Ernüchterung. „Für Jugendliche“, sagen Bewohner, „ist ein tödlicher Querschläger wahrscheinlich als der Schul-Abschluss.“

An dieser Stelle kommt oft Dr. Gary Slutkin von der Universität von Illinois zu Wort. Der Initiator des Präventionsprogramms „Cure Violence“ beklagt, dass die Förderung sozialer Schwerpunkte in den am meisten betroffenen Stadtteilen zurückgefahren worden sei. Slutkin beschreibt das Waffen-Problem in Chicago wie eine „ansteckende Seuche“. Mit ehemaligen Gang-Mitgliedern und geläuterten Gesetzesbrechern setzte er gezielt „Anti-Körper“ als Vermittler ein, um die Gewaltspiralen in den Kiezen zu unterbrechen. „Wenn die Polizei einschreitet“, so Slutkin, „ist es in der Regel zu spät.“

Bürgermeister Emanuel weiß jedoch: Nicht alles liegt in der Hand der Entscheider in Chicago. In seiner Metropole herrschen mit die schärfsten Waffengesetze landesweit. Aber schon wenige Kilometer nebenan im US-Bundesstaat Indiana, in dem Trumps Vizepräsident Mike Pence als Gouverneur regierte, ist der Erwerb einer Waffe ein Kinderspiel.

Privatpersonen und Waffenmessen verhökern Pistolen und Gewehre ohne Hintergrund-Checks und ohne Papierkram an den, der zahlt. Mit dem Ergebnis, dass fast 60 Prozent der 8500 konfiszierten Waffen im vergangenen Jahr in Chicago illegal von außen über die Bundesstaatsgrenzen gekommen waren; 20 Prozent allein aus Indiana.