Washington/Chicago. Ein junger Schwarzer in USA wurde von 16 Polizeikugeln durchsiebt. Gegen den Schützen ist nun Anklage ergangen. Es drohen neue Unruhen.

Die Staatsanwaltschaft in Chicago hat am Dienstag Anklage erhoben gegen den Polizisten, der vor einem Jahr einen 17-jährigen afroamerikanischen Jungen mit 16 Schüssen tötete. Der 37-jährige Jason Van Dyke, ein Weißer, muss sich demnach wegen vorsätzlichen Mordes verantworten, wie am Dienstag amerikanische Medien berichteten. Doch nicht allein deshalb drohen in Chicago neue Rassenunruhen. Ein Video, das die Tat zeigt, wird an diesem Mittwoch auf Anordnung eines Gerichts veröffentlicht.

Rückblick: Um das schwindende Vertrauen vieler Afroamerikaner in die Polizei nicht weiter erodieren zu lassen, zückte US-Präsident Barack Obama nach dem skandalösen Tod des jungen Schwarzen Michael Brown in Ferguson das Scheckbuch. 50.000 Polizisten, so verfügte der Präsident vor einem Jahr, seien auf Staatskosten so schnell wie möglich mit Körperkameras („body cams“) auszurüsten. Das am Uniform-Revers befestigte künstliche Auge des Gesetzes sollte übermäßige Polizeigewalt drosseln. Oder sie später, wenn wie so oft Aussage gegen Aussage steht, zumindest leichter justiziabel machen.

Was aber, wenn der Bilderbeweis längst erbracht und so entsetzlich eindeutig erscheint, dass man sogar Unruhen befürchtet, wenn die breite Öffentlichkeit davon erfährt? Ausgerechnet in Obamas Heimatstadt Chicago wird am Mittwoch ein Polizei-Video freigegeben, das die Metropole am Südzipfel des Michigan-Sees in ein zweites Ferguson verwandeln könnte, wie örtliche Medien befürchten: „In eine Stadt, die sich mit Gewalt auflehnt gegen Rassismus und Behördenwillkür.“

Laquan McDonald wurde von Kugeln durchsiebt

Was war geschehen? Im Oktober 2014 geriet der 17-Jährige Laquan McDonald mit dem Gesetz in Konflikt. Mit etwas zu viel Drogen im Blut und einem mittelgroßen Taschenmesser irrlichterte der Heranwachsende nachts über die Pulaski Straße im Südwesten der Stadt. Eine Streifenwagenbesatzung wurde aufmerksam. Wenige Minuten später war McDonald tot. Erschossen.

Jason Van Dyke, der 37 Jahre alte Todesschütze, ein Weißer, gab bei seiner Vernehmung an, er habe aus Notwehr gehandelt. McDonald soll Reifen an seinem Dienstwagen aufgeschlitzt, alle Anweisungen ignoriert und ihn selbst massiv bedroht haben. Die Eltern des Opfers protestierten und riefen nach dem Staatsanwalt. Ein Fall unter vielen in einer von Gang-Rivalität und Gewalt-Metastasen zerfressenen Stadt, in der Jahr für Jahr an die 50 Begegnungen zwischen Bürgern und Polizei tödlich oder beinahe tödlich enden. In der Regel für den Bürger.

Hellhörig wurden Medien und Stadtgesellschaft erst, als der Stadtrat im April ein Schmerzensgeld von rund fünf Millionen Dollar für die Familie McDonalds bewilligte. Die dritthöchste Summe, die jemals von der Polizei in Chicago in solchen Angelegenheiten überwiesen wurde. Und zwar lange bevor es zu einem ordentlichen Gerichtsverfahren kommen konnte.

Bei den Recherchen nach dem Warum stießen Reporter auf die pauschale Aussage der Stadtverwaltung, ein Video habe die entscheidende Rolle gespielt. Das Video wurde von der „Dashcam“ aufgenommen, der auf dem Armaturenbrett installierten Kamera im Polizeiwagen von Officer Van Dyke.

Todesschütze wurde in den Schreibdienst versetzt

Alle Versuche, die Polizei zur Herausgabe des Bildmaterials zu bewegen, schlugen über Monate fehl. Mit dem Hinweis auf das „laufende Verfahren“ und die Notwendigkeit, „die Ermittlungen nicht zu behindern“ wurden entsprechende Bitten abschlägig beschieden. Bürgermeister Rahm Emanuel, einst Stabschef von Obama im Weißen Haus und sonst ein Verfechter unbedingter Transparenz, stellte sich an die Spitze der Bewegung. Todesschütze Van Dyke blieb bis zuletzt unbehelligt und wurde in den Schreibdienst versetzt.

Dann kam der 19. November und änderte alles. Richter Franklin Valderrama entschied auf Antrag des Reporters Brandon Smith zum Entsetzen der Stadtspitze: Das Video muss aus dem Schließfach, die Öffentlichkeit hat ein Anrecht darauf zu sehen, wie Laquan McDonald starb. An diesem Mittwoch soll die Aufnahme nun öffentlich gemacht werden.

„Es war eine Exekution“

Über Nacht stand den wenigen, die von Berufs wegen bis dahin die letzten Sekunden des Teenagers gesehen hatten, der Angstschweiß auf der Stirn. Denn Laquan McDonald wurde von 16 Kugeln regelrecht zersiebt. „Es war eine Exekution. Der Junge ging vom Polizeiauto weg, als der erste Schuss fiel. Dann lag er schon am Boden. Aber der Officer hat aus nächster Nähe immer weiter geschossen“, vertraute ein Eingeweihter einer Lokalzeitung an.

Ein anderer, dem beim Anblick der Bilder „übel“ wurde, schilderte einem Konkurrenzblatt, dass Van Dyke auf „Rücken, Arme, Beine, Hals und Kopf“ zielte. „Der Körper des Opfers hat von der Wucht der Geschosse ständig gezuckt.“

Schwere Unruhen befürchtet

Seit diese Einzelheiten kursieren, fürchten Bürgermeister und Honoratioren eine Wutentladung größter Wucht. „Das kann hier ganz schnell schlimmer als Ferguson werden“, sagt der Geistliche Corey Brook. Eine Anspielung auf Plünderungen, Brandschatzungen und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Demonstranten in der Kleinstadt nahe St. Louis nach dem Tod von Michael Brown im Sommer vergangenen Jahres.

Um die Gemüter im Vorfeld zu beruhigen, hat die Stadtspitze Chicagos radikal den Kurs gewechselt. Bürgermeister Emanuel spricht plötzlich von einer „abscheulichen Tat“ und einem „totalen Machtmissbrauch“ des Polizisten. Darüber hinaus hat die Stadt ein präventives Krisen-Management in Gang gesetzt: Führungsfiguren in der schwarzen Community sollen die erwarteten Wellen des Zorns glätten, wenn das Video im Lauf des Mittwochs über das Internet „viral“ wird. Selbst die Chef-Kommentatoren der Zeitungen ließen sich einspannen. „Seid leidenschaftlich, aber seid friedlich“, gab die Chicago Tribune potenziellen Demonstranten mit auf den Weg.

Daniel Herbert, der Anwalt des Polizisten, erklärte, sein Mandant habe Frau und Kinder und „Todesangst“. Das Video zeige nur einen Ausschnitt der Wahrheit. Für die Staatsanwaltschaft, die nun Anklage gegen Van Dyke erhob, muss er groß genug gewesen sein.