Hongkong. Auch 20 Jahre nach der Übergabe der Kronkolonie an China ist längst noch nicht alles, was britisch ist, aus der Hongkong verschwunden.

„Little Dragon“ rennt, als wüsste er, worum es geht. Auf der Hongkonger Pferderennbahn Sha Tin steht er für ein Versprechen, das 50 Jahre Gültigkeit haben soll. „Die Pferde werden weiterrennen“, hatte Chinas ehemaliger Staats- und Parteichef Deng Xiaoping schließlich einst prophezeit, um für die Rückgabe der britischen Kronkolonie an die Volksrepublik zu werben. Am 30. Juni 1997 werden diese Worte immer wieder zitiert. In der Nacht, in der die Briten die Millionenmetropole nach rund 150-jähriger Herrschaft endgültig verlassen, stehen die Pferderennen stellvertretend für das demokratisch-marktwirtschaftliche System, das das sozialistische China der ­neuen Sonderverwaltungszone unter dem Motto „ein Land, zwei Systeme“ weiterhin ­gewähren will. Der kleine Drache ist ein Symbol für eine ganze Gesellschaftsordnung.

So ist auch 20 Jahre nach der Übergabe längst nicht alles, was britisch ist, aus Hongkong verschwunden. Die roten Briefkästen mit der Krone wurden natürlich abgeschraubt, die Porträts von Elizabeth II. abgehängt. Zusammen mit dem Union Jack sank 1997 langsam auch der Stern des britischen Empire auf den Boden der Hongkonger Tatsachen – die Pacht der „New Territories“ im Norden war nach 99 Jahren abgelaufen, der Vertrag über die Rückgabe der Stadt schon 1984 unterschrieben. Das Einholen der Flagge, Dudelsack-Klänge, ein paar mahnende Worte, dann winkte der Prinz von Bord der „Britannia“ noch einmal Goodbye – und ließ Menschen zurück, die sich noch heute in erster Linie als „Hongkonger“ fühlen, mit internationaler Identität, stolz auf ihr westliches Wertesystem und ihre chine­sische Kultur.

Im Western Market stehen noch zwei typische rote Telefonzellen

Auf Hongkong Island, dem asiatischen Gegenstück zu New Yorks Manhattan, läuft der britische Einfluss wie der Untertitel in einem chinesischen Film bei jedem Schritt mit. Zwischen den riesigen Wolkenkratzern, die sich aus reinem Platzmangel immer weiter in die Höhe schrauben, herrscht Linksverkehr. Es gibt die Queen’s Road und den Victoria Harbour, die Tram zuckelt schon seit 1904 quer über die Insel. Und auf den Bürgersteigen vor den Schaufenstern von Gucci, Armani und Co. warten die Leute auf den Bus – in feiner englischer Art brav aufgereiht in Schlangen, die einen ganzen Häuserblock lang sein können. Hier und da behaupten sich auch noch einige Kolonialgebäude wie der „Western Market“ – im Inneren zwei nostalgische rote Telefonzellen – zwischen den spiegelnden Bürofassaden und den verblassten Wohnblöcken mit ihren subtropischen Altersflecken.

Gleich um die Ecke, am sogenannten Possession Point, haben die Briten während des Ersten Opiumkriegs gegen China 1841 ihre Fahne gehisst und das Fischerdorf Hongkong samt seiner 7000 Einwohner zwei Jahre später zur Kronkolonie erklärt. Chinesische Einwanderer machten aus dem Stadtteil Sheung Wan ihr eigenes Handelszentrum: Seit über 100 Jahren schon werden hier, in „Old Town Central“, schwarze Seegurken auf den Straßen zum Trocknen ausgelegt. Antilopenhörner, Walsekret, Ginseng und Vogelnester locken Shoppingtouristen vom chinesischen Festland an, die nicht nur bei Luxusartikeln, sondern auch in Gesundheitsfragen lieber auf Hongkonger Qualität als auf heimische Fälschungen setzen. In winzigen Ladenlokalen türmen sich Hunderttausende Produkte bis unter die Decke, und im Man Mo Tempel beten Schüler und Studenten mit Räucherstäbchen für gute Prüfungsergebnisse – der Qualm ist so dicht, dass Touristen schnell das Weite suchen.

Hongkong ist eine Business-Stadt: tough, teuer und erfolgsorientiert

Keine Frage, der Kapitalismus hat überlebt. Hongkong ist eine Business-Stadt: tough, teuer, erfolgsorientiert, in ständigem Wandel. Allein die Mieten in den Apartmentblocks, die mit Platz für gut und gerne 1000 Bewohner die Bevölkerung eines deutschen Städtchens beherbergen könnten, sind horrend. „Wenn ich zwei Wochen weg bin, haben in dieser Zeit ein Dutzend Läden dichtgemacht und neue eröffnet“, erzählt Toby Cooper. Der Engländer betreibt im angesagten Szeneviertel SoHo das britische Pub The Globe. Die Übergabe Hongkongs an China hat er als junger Rucksacktourist im Fernsehen verfolgt. „Wir haben viel Militär gesehen“, erinnert er sich. Manche haben damals befürchtet, es würden bald chinesische Panzer durch die Straßen rollen.

Einige verließen die Stadt. „Aber nichts ist passiert“, sagt Cooper. „Die Institutionen sind gegangen, viele Ausländer sind geblieben. Vor allem in den letzten Jahren sind wieder mehr Europäer gekommen.“ Auch Chinesen zieht es zunehmend in die Metropole: Allein 2016 ­kamen etwa 40 Millionen Touristen, seit 1997 sind rund eine Million Landsleute eingewandert – etwa jeder siebte Hongkonger ist inzwischen ein „Festländer“, so nennen sie die Neuankömmlinge hier.

Für die „alten Hongkonger“ sind diese Chinesen fast wie Ausländer, und ihr steter Zuzug über die Grenze, die Hongkong noch immer von China trennt, bereitet einigen alteingesessenen Einwohnern Sorge. Die „neuen Hongkonger“ hielten sich nicht an die Regeln: Sie spuckten überall hin, würden in der ­U-Bahn essen, drängelten sich vor. Und dann seien da noch die subtilen innenpolitischen Einmischungsversuche aus Peking, vor allem Journalisten und Studenten fürchten um die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz.

In Kowloon gibt es noch ein wenig vom „alten Hongkong“

Das stete Ringen um die eigene Identität und die innere Autonomie äußern sich nicht nur in Protesten wie bei der sogenannten Regenschirm-Bewegung, die 2014 freie Wahlen forderte. Die Entwicklung trägt auch kreative Blüten: Vor allem die Bier-Szene der Stadt hat eine echte Revolution erlebt. Jüngst haben zwei Dutzend lokale Brauereien eröffnet. Noch so eine typisch englische Vorliebe? „Vor 15 Jahren noch hätten die Leute hier britisches Bier gebraut“, ist Toby Cooper überzeugt. „Jetzt bekommt die Stadt ihren eigenen Biergeschmack – die Brauereien benutzen lokale Kräuter, Gewürze, Tee.“

Den trendigen Stadtteil PoHo zum Beispiel. Fünfstöckige Häuser aus den 40er- und 50er-Jahren – für Hongkonger Verhältnisse geradezu lächerlich winzig – wurden hier vor dem Abriss bewahrt. Die bunten Werke lokaler und internationaler Graffiti-Künstler finden bei den Hausbesitzern zunehmend ­Anklang. Gemütliche Tee-Lokale, kleine Antiquitätenläden und originelle Design-Shops verbergen sich hinter blauen, grünen oder orangefarbenen Fassaden. In einer Sackgasse stehen schlichte Plastikstühle für eine schnelle Portion gebratenen Reis oder einfach nur den kräftigen Milchtee „Hongkong Style“ ­bereit.

Auch auf der anderen Seite der Meerenge, in Kowloon, haben kleinere Wohnblöcke vergangener Jahrzehnte überlebt. Die vergleichsweise niedrigen Mieten können sich noch einfache Cafeterias und Handwerker leisten. Mrs. Ho zum Beispiel verkauft hier ihre hand­gemachten Waagen, die längst aus der Mode gekommen sind. Das ganze Herzblut der ­80-Jährigen steckt in dem kleinen Stand, nach einer Augenoperation mussten ihre Kinder die Schlösser austauschen, um die alte Dame vom Arbeiten abzuhalten. Seit 90 Jahren schon gibt es den Shop, den ihr Vater einst eröffnete – Ende des Jahres wird er abgerissen, um Platz für das moderne Hongkong zu schaffen. „Alles hier wandelt sich sehr schnell“, sagt Ling, die seit einigen Jahren kulturelle Spaziergänge im Viertel Yau Ma Tei anbietet. „Deshalb möchte ich, dass die Leute das wahre Leben in Hongkong fühlen, die Plätze unserer Erinnerung entdecken.“

Man ist stolz auf den Mix aus Ost und West

Das Erbe der Briten, die für diese Seite der Halbinsel erst im frühen 20. Jahrhundert einen Besiedlungsplan erstellt haben, ist in Kowloon weniger offensichtlich. Wer den Pier hinter sich lässt, wo die „Star Ferry“ seit über 100 Jahren in Richtung Skyline abfährt, und den alten Uhrturm aus rotem Backstein passiert, der viele Jahre lang Millionen von chinesischen Immigranten am Bahnhof begrüßte, der findet sich in einer Welt aus Schrift­zeichen wieder. In den Hinterzimmern der ­Läden werden die Hackmesser per Hand ­geschliffen, die Auslagen zeigen Hühnerfüße oder getrocknete Geckos am Stil, auf den Speisekarten stehen Schlangensuppe und ­Tofu mit Ingwersirup. Obwohl die kantone­sische Küche als beste Chinas gilt, ist man in Hongkong mal wieder „stolz auf den Mix aus Ost und West“, sagt Yammy Tam, die regelmäßig im Stadtteil Sham Shui Po zur „Foodie Tour“ lädt.

Letztlich ist Hongkong eben ein Schmelztiegel der Kulturen: Indonesier und Filipinos, Amerikaner und Kanadier, Deutsche und Chinesen leben und arbeiten Seite an Seite. Der britische Pub-Betreiber identifiziert sich ebenso mit der Stadt wie die in Hongkong ­geborene alte Dame, deren Eltern einst her­kamen, um ihre Küchenwaagen zu verkaufen. An den Wochenenden treffen sie alle sich beim Pferderennen – die beiden Stadien, die gemeinsam über 100.000 Zuschauer fassen können, sind stets gut besucht. Den ersten Wettkampf hielten die Briten hier schon 1844 ab und die Chinesen haben ihr Versprechen gehalten: Die Pferde rennen weiter.

Tipps & Informationen

Anreise: Ab Berlin z. B. mit Air Berlin und Etihad über Abu Dhabi oder mit Lufthansa über München nach Hongkong.

Übernachtung: z. B. Lanson Place Boutique-Hotel (DZ ab ca. 213 Euro). Das Paket „TramOramic Hong Kong“ beinhaltet Ü/F dort, eine Sightseeing-Tour und einen Zwei-Tages-Pass fürs Tram-Netz.

Touren: Hohogo, Walk in Hong Kong

Jubiläum: Hongkong feiert das ganze Jahr über – hier einige Events.

Auskunft: www.discoverhongkong.com

(Die Reise wurde unterstützt von Discover Hongkong.)