Kassel. Einst Kulisse für deutsche Kinoklassiker, findet in Kassel seit dem 10. Juni wieder für 100 Tage der Kunst-Hingucker Documenta statt.

70/30/100.000 – das sind die Maße des Stars der 14. Documenta: 70 mal 30 Meter groß ist der Parthenon of Books, ein aus 100.000 Büchern bestehender, griechischer Säulentempel – errichtet als Link zur erstmaligen Documenta-Partnerstadt Athen und als Mahnmal gegen weltweite Zensur auf dem Kasseler ­Friedrichsplatz, seit jeher Zentrum der Documenta.

Nebenan werden die weitläufigen, grünen Karlsauen an der Fulda wohl wieder herhalten müssen für ausladende, Blickachsen verstellende Landschaftsgärtnereien oder ein eigens gezimmertes Holzplateau voller Galgen – wie vor fünf Jahren. Die meisten solcher im Auftrag renommierter, oft spät anreisender Künstler von örtlichen Handwerksbetrieben errichteten Zimmermannsarbeiten werden nach Ende der Documenta rückstandslos entsorgt.

So ist es Vorschrift, damit Kassel nicht zur Resterampe der internationalen Art-Szene wird. Nur 16 Evergreens ­früherer Documentas hat die Stadt sich gesichert – die seit 1982 am Fulda-Ufer zwölf Meter hoch aufragende Spitzhacke von Claes Oldenburg beispielsweise oder die vor dem alten Bahnhof eine schräge Stange hinaufstrebende Figur „Man walking in the Sky“ (1992), von Einheimischen „Himmelsstürmer“ getauft.

Treppenstraße war eine der ersten Fußgängerzonen Deutschlands

Die Treppenstraße überwindet mehr als 15 Meter Höhenunterschied.
Die Treppenstraße überwindet mehr als 15 Meter Höhenunterschied. © HA | --

Ob während einer Documenta oder zwischendurch – stets rahmt Kassel die ­Installationen und Skulpturen im Stadtbild auf besondere Weise ein: Mit rechteckigen Fassaden, vielerorts auch Straßenverläufen und vorkragenden, tragflächenartigen Flugdächern. Zusammen ergeben sie die prägenden Linien für ein Architektur-Ensemble der 50er-Jahre, das so dominant, so kompakt in keiner deutschen Stadt erhalten ist. Und bei jeder Documenta zudem eine Verbindungsachse bildet zwischen ihrem Zentrum und dem Himmels­stürmer.

Denn dazwischen verläuft die 275 Meter lange Treppenstraße, schon 1953 als eine der ersten Fußgängerzonen Deutschlands eröffnet. Noch heute ein enger Boulevard über mehrere Plateaus, verbunden durch 104 Treppenstufen, die mehr als 15 Meter Höhenunterschied überwinden.

Architektur ist noch immer von den Fifties geprägt

Reduziert arrangiert mit Blumenbeeten, Brunnen und Sonnenschirmen, beidseits gesäumt von geduckten Ladenzeilen – ein typisches Beispiel der „50er-Jahre-Bescheidenheitsarchitektur“ die sich dann zum Ende hin am Scheidemannplatz noch mäßig aufstrebende Kontrapunkte als Abschluss gönnt: Zwei Hochhäuser mit Fassaden, so kassettenartig gleichmäßig, als seien sie in einem Waffeleisen produziert worden.

Wer durch Kassel schlendert, entdeckt noch einige davon, zum Beispiel am Gerichtsgebäude beim Ständeplatz oder am Nordsternhaus in der Friedrich-Ebert-Straße – alles Zeugnisse der sich damals in Deutschland immer mehr durchsetzenden Stahlbetonskelettbauweise. Sie ermöglichte es, vor allem Verwaltungsgebäude zunächst als hoch ­aufragende, gleichförmige Gerippe zu errichten, um diese dann fertig auszubauen – mit feingliedrigen Fensterprofilen, oft aus Messing. Vielfach rau verputzt sind sie heute noch immer – wie in den 50ern üblich – in Pastell gestrichen, von Eierschalweiß und Vanillebeige über Mintgrün bis Hellblau.

Kassel war mal Klein-Hollywood in Deutschland

Ein paar Autos umparken, einige ­aktuelle Reklameschilder von Häusern ­abschrauben – viel mehr müssten Filmproduzenten heute wohl nicht ändern, wollten sie hier einen Fifties-Film drehen. Und würden damit die Zeit wiederbeleben, als Kassel so etwas war wie Klein-Hollywood in Deutschland.

Bis Mitte der 50er-Jahre schon so weit­gehend und so modern wieder aufgebaut wie kaum eine andere Stadt, war diese Kulisse vortrefflich für Außen­aufnahmen von Kinoklamotten wie „Natürlich die Autofahrer“ und „Der letzte Fußgänger“ mit Heinz Erhardt ebenso wie für den bissig-ironischen Spielfilm „Rosen für den Staatsanwalt“ mit Martin Held, Inge Meysel und Ralf Wolter oder das Dramolett „Nachtschwester Ingeborg“ und die Comic-Verfilmung „Nick Knatterton“ mit Karl Lieffen und Gert Fröbe.

Viele Filmstars der 50er-Jahre gastierten im Hotel Reiss

Drehort war oft die Treppenstraße. Was die damalige Lokalzeitung „Hessische Nachrichten“ etwas übermütig kommentierte: „Die Atelierszenen sind zwar in Göttingen entstanden, doch das Großstadtflair borgt man sich in Kassel aus.“ Premieren-Flair allerdings hatte die Stadt wirklich, vor allem im Hotel Reiss, 1955 eröffnet. Am Hauptbahnhof gegenüber kamen damalige Stars wie Heinz Rühmann, Hildegard Knef, Heinz Erhardt, Hans Moser, Theo Lingen, Maximilian Schell, Alice und Ellen Kessler, Joachim Fuchsberger, Christine Kaufmann oder Johannes Heesters an, wurden oft von Tausenden Schaulustigen begrüßt, um dann über den roten Teppich zu entschwinden in den Hotel- Ballsaal.

Ihn schließt die Rezeptionistin des Hotel Reiss auf Nachfrage gerne heutigen Besuchern mal auf, und kaum steht man drin in diesem plüschroten XXL-Karton mit Wandlampen und Stempelsäulen, schon läuft sie vorm inneren ­Auge ab, so eine Premierenfeier mit livriertem Conférencier und brav dienernden Darstellern mit Frack und Dauerwelle.

Treppen, die an Petticoats erinnern

Kassel hat jede Menge solcher ­Türen, hinter denen Fifties-Schätze schlummern, nicht selten an Documenta-Spots. Beispielsweise das Gloria Kino mit geschwungenem Schreibschrift-Neon-Schriftzug überm Eingang, Nierentischen im Foyer und komplett lindgrünem 300-Plätze-Saal inklusive strengem Faltenrockvorhang liegt an der Friedrich-Ebert-Straße, der Feiermeile vieler Documenta-Künstler und -Besucher. Oder das Hotel Hessenland: Im Foyer schraubt sich die freitragende Treppe um eine Neonstele herum hoch in den ersten Stock und erinnert dabei in ihrer Dynamik an ein Petticoat, das beim Tanz herumwirbelt. Nachträglich hineininterpretierte Assoziation? Keineswegs!

Architekten der 50er haben die Aufbruchsstimmung dieser Jahre vielfach in spiralförmig aufwärtsstre­benden Treppen mit geschwungenen Handläufen ausgedrückt – in Kassel bis heute zu sehen und zu begehen auch im ehemaligen Haus der Wirtschaft am Ständeplatz und im AOK-Haus am ­Friedrichsplatz, da, wo sich heute alle Documenta-Wege kreuzen und wo die Kunstschau vor gut 60 Jahren fast zu­fällig begann.

Mehr als 140 Künstler stellen auf der Documenta aus

Die Bewerbung zur Bundeshauptstadt war 1949 gescheitert, vielleicht wollte das zu 80 Prozent zerstörte Kassel auch deshalb dem Rest der Republik zeigen, dass es sich ganz schnell, sehr modern wieder aufbaut – weg von historisie­rendem Mittelalter-Fachwerk und monumentalem Nazi-Protz hin zu leichter, zukunftsweisender und vor allem verkehrsgerechter Stadtplanung, wie es damals mit Blick auf die aufkommende Motorisierung hieß.

Ob als Trostpflaster für den ent­gangenen Hauptstadttitel oder als Belohnung für so viel Modernisierungsfleiß – die Politik schenkte Kassel neben dem Bundessozialgericht und dem Bundesarbeitsgericht (wurde nach dem Mauerfall nach Erfurt verlegt) auch die Bundesgartenschau 1955. Für Letztere schlug der Kunsterzieher Arnold Bode als Ergänzung eine Kunstschau vor, die vor allem Werke zeigen sollte, die von den Nazis als „entartet“ verfemt worden waren.

Feininger, Klee, Kandinsky, Picasso, Miro und mehr als 140 andere Künstler stellten im noch weitgehend zerstörten Museum Fridericianum aus, auf nackten Betonböden und vor unverputzten Ziegelmauern – unter dem Titel „Documenta 1“. Mehr als 130.000 Besucher kamen – ein Überraschungserfolg und erster Schritt hin zur Documenta-Stadt – so nennt Kassel sich heute.

Tipps & Informationen

Anreise Per Bahn zum ICE-Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe, von dort per Straßenbahn ins Zentrum. Im Pkw ist Kassel über die Autobahnen A 7 und A 44 gut erreichbar

Übernachten Wenn es – passend zu manchem Documenta-Kunstwerk – eine ausgefallen-schräge Unterkunft sein soll, dann ins Ex-Bordell, das Künstlerin Elfi und Fotograf Pitze Eckart gekauft und zum „Foto-Motel“ mutiert haben – mit Kasseler Themenzimmern, Documenta-4-Fliesen und Sammlerstücken in der Lobby . Wolfhager Str. 53, www.accommodation-kassel.de, Doppelzimmer ab 65 Euro.

Oder zentraler im Hotel Reiss. Vom Dach ragt ein Sprungbrett – das Kunstwerk „Arschbombe“, eine Documenta-Hommage. Im original Fifties-Ballsaal feierten Stars wie Marika Röck und Heinz Rühmann Premieren. Werner-Hilpert-Str. 24, www.hotelreiss.de, Doppelzimmer ab 180 Euro.

Nach wie vor die Nummer eins in Kassel, obwohl weit draußen im Bergpark gelegen, bietet das Schlosshotel Wilhelmshöhe helle Zimmer mit Wanne beim Bett, und edlen Lederliegen (Schlosspark 8, www.schlosshotel-kassel.de, Doppelzimmer mit Frühstück ab 169 Euro). Alle Preise bereits mit Documenta-Zuschlag!

Auskunft Kompakt über die Stadt unter www.kassel.de. Über die Documenta 14 (10. Juni bis 17. September, tägl. 10–20 Uhr) auf www.documenta.de. Ein sehr unterhaltsamer Reiseführer zur Documenta ist unter dem Titel „Ist das Kunst oder kann das weg?“ gerade bei DuMont neu aufgelegt worden.

Erleben Wer Kassels Architektur nicht auf eigene Faust erlaufen möchte, kann sich der Führung von Sylvia Stoebe anschließen. Die Privatdozentin für Architektur an der Uni Kassel zeigt im Rahmen ihrer Innenstadtrundgänge alle wichtigen Gebäude und Plätze der 50er-Jahre. Gruppenpreis: 75 Euro (bis zu 15 Per.). sylvia.stoebe@uni-kassel.de