New York. Ein Spaziergang durch Long Island City: Das New Yorker Stadtviertel punktet mit zentraler Lage, günstigen Preisen – und viel Kunst.

Ob er Visionen für den Bezirk hat, fragen wir Dan. Lange überlegen muss er nicht. „In ein paar Jahren gibt es möglicherweise eine Fährverbindung von hier direkt zur Wall Street!“, sagt er und blickt über den East River auf Manhattan, wo sich die Sonne in den Fenstern der Wolkenkratzer spiegelt. „Klar freuen wir uns, dass immer mehr Touristen so wie ihr den Weg in unseren Stadtteil finden. Aber . . .“ Aber? Der Greeter, der mit uns einen geführten Spaziergang, einen sogenannten Neighbourhood-Walk, durch Long Island City macht, spricht nicht weiter, sondern fordert uns mit einer Handbewegung auf, ihm zu folgen. „Kommt. Ich zeig euch erst mal, wo ihr seid!“

Wir sind in Long Island City, kurz LIC. Ein Stadtteil des New Yorker Bezirks Queens, den bislang wenige Touristen kennen. Nur einen Subway-Stop von Manhattan entfernt, und doch Lichtjahre voneinander getrennt. Noch bis vor wenigen Jahren war LIC ein reines Industriegebiet, geprägt von maroden Fabrik­gebäuden und grauen Lagerhallen, von teils öden Straßen, an denen Werkstätten und Autofriedhöfe liegen, von Häusern, an denen die Farbe schon längst abgeblättert ist, und weiten Flächen, auf denen sich Schrott ansammelt.

Eine andere Welt

Wenn man nicht gerade am East River steht und auf die berühmte Skyline schaut, dann scheint Manhattan tatsächlich weit weg zu sein. Hier ist eine andere Welt, ein anderes NY. Weniger voll, weniger touristisch. Ohne Make-up, Glitzer und Glamour. „LIC ist im Werden und im Kommen“, sagt Dan. Der quirlige Amerikaner mit italienischen Wurzeln war früher Lehrer. Heute arbeitet er für den NY Tourismus, wohnt im Nachbarviertel Astoria und ist mit Leib und Seele hier verhaftet. „Jahrelang kam niemand her, wenn er nicht hier gearbeitet hat“, sagt er. Einer der Gründe dafür war die hohe Kriminalitätsrate. Das Viertel wirkte heruntergekommen, galt als Schandfleck.

1870 ließen sich erste Unternehmen in Long Island City nieder und legten so den Grundstein für das Industrie-Areal. Mittlerweile sind viele Firmen nach Manhattan abgewandert, sicher auch um der besseren Adresse willen. Aber es gibt einige, die die Stellung halten. Wie zum Beispiel der weltberühmte ­Klavierbauer Steinway oder die Silvercup Filmstudios, in denen unter anderem die Serie „Sex and the City“ produziert worden ist. Durch die Abwanderung entstand der übliche Leerstand, der traditionell Künstler anlockt.

Und so wurden auch hier aus leeren Fabrikgebäuden coole Lofts und Ateliers, Geschäfte und Gas­tronomiebetriebe siedelten sich an, erste ­Hotels wurden gebaut – der Startschuss einer industriellen Evolution, der Beginn eines reizvollen urbanen Mischgebiets, das bislang noch bezahlbaren Wohnraum für Familien bietet. „Wenn Schulen und Kindergärten gebaut und eröffnet werden, ist das immer ein gutes Zeichen“, sagt Dan, während wir durch den alten Teil von LIC gehen, der von kleinen Backsteinbauten, flachen Schuppen dominiert wird. Dan freut sich über die Belebung des Stadtteils. Klar – so ganz glücklich waren die alteingesessenen Einwohner anfangs nicht, als erste Luxusapartment-Komplexe direkt am East River entstanden und ihnen die Sicht auf die berühmte Skyline nahmen. Aber sie haben sich damit arrangiert und wissen mittlerweile zu schätzen, dass Geld in das Viertel fließt.

Die Vergangenheit wird bewahrt

Trotzdem: Noch immer macht es Long Island City den Touristen nicht leicht. Es wirkt zwar bunt, lebendig, mit einem Hauch von Boheme, aber es ist auch sperrig und wenig zugänglich für den, der am liebsten leichte touristische Kost konsumiert. Dabei gibt es durchaus ­Höhepunkte, angefangen bei dem 16 Hektar großen Gantry Plaza State Park direkt am East River. Er erstreckt sich über insgesamt vier Piers im alten Hafengelände und hat als besonderes Wahrzeichen die erhalten gebliebenen Brückenkräne.

Mittendrin eine riesige Pepsi-Cola-Leuchtreklame, die daran erinnert, dass dort, wo jetzt Wohnhäuser stehen, einst Limonade hergestellt wurde. Geschichte, wo man nur hinschaut. Wer auf einer der vielen Sitzgelegenheiten Platz nimmt, hat nicht nur Manhattans Wolkenkratzer vor Augen, sondern auch Roosevelt Island, eine rund 60 Hektar große Insel. Früher Ort von Strafanstalten und Krankenhäusern, heute ebenfalls mit Wohnungen bebaut. Immer wieder Kontraste. Alt und Neu. Rost und Stahl.

Über die Grenzen Queens’ hinaus bekannt ist LIC für seine Kunstszene. Wer zum Beispiel das Gedränge im Museum of Modern Arts in Manhattan scheut, findet hier seinen kleinen Bruder, das MoMa PS1, das sich mit Ausstellungen experimenteller Kunst einen Namen gemacht hat. Ebenfalls sehenswert – das Sculpture Center in der Purves Street. Früher eine Werkstatt, werden dort heute zeitgenössische Plastiken gezeigt. Dazu kommen Hauswände, die als Leinwände für originelle Graffiti hergehalten haben.

LIC wirkt rau und ungeschliffen

Man muss allerdings eine Neigung zu ungewöhnlicher Kunst haben. Gefällig ist hier nichts. Und seine Vergangenheit verleugnen will Long Island City auch nicht. Aber gerade das macht die Gegend so spannend und hebt sie wohltuend zum Beispiel von Williamsburg, einem Stadtteil von Brooklyn, ab. LIC wirkt noch rau und ungeschliffen. Williamsburg hingegen hat sich von einem ehemaligen Arbeiterviertel längst zu einem angesagten Szeneviertel mit vielen Bars und Kneipen entwickelt. Es gilt als Hipster-Wonderland und ist besonders bei den Kreativen, künstlerischen und freiheitsliebenden Einwohnern beliebt. Der Unterschied: LIC will seine Vergangenheit bewahren und weniger szenig werden als bei aller Neuausrichtung authentisch bleiben. In Williamsburg dient die Vergangenheit beinahe nur noch als nostalgische Kulisse für die coole Gegenwart.

Je mehr Straßenzüge wir durchqueren, je mehr Dan uns erzählt, desto deutlicher wird, was man manchmal benötigt, um einen ­Zugang zu einem Ort zu bekommen. Es sind nicht die Reiseführer, die einem Wissen vermitteln, es sind auch nicht die Geheimtipps diverser Reiseautoren, die einen zu angeblich versteckten Orten führen. Hier ist es der Greeter. Besser: seine Geschichten über die Menschen, die hier leben und arbeiten. Die fest verwoben sind mit der Geschichte des Viertels, die hier seit Generationen ihre Heimat haben und sich für den Erhalt engagieren.

Da ist zum Beispiel Gianna. ­Inhaberin eines italienischen Restaurants, mit ihrem Sammelsurium alter Ledertaschen, Hüte und Haushaltsgeräte, die die Regale an den Wänden des Gastraums füllen und von dem ­jedes einzelne Stück seine Geschichte hat, die wiederum mit dem Restaurant verwoben ist. Wie die Telefonzelle von 1920, angeblich die älteste der Stadt, die ihr vom ehemaligen Besitzer vermacht worden ist, damit die Zelle an ihren Originalstandort zurückfindet.

Oder der verknautschte Hut, der einem ehemaligen Gast im Restaurant ihrer Eltern eine Straße weiter gehörte, einem Mafia-Mitglied, wie man ihr später verriet. Als sie ein kleines Mädchen war, hat sie stets bei ihm am Tisch gesessen, während er zu Mittag aß, und er hat ihr immer einen Dollar geschenkt. Nach seinem Tod kam seine Tochter zu Gianna. Mit dem Hut, den er ihr zugedacht hatte. Inklusive einem Dollar.

Persönliche Geschichten

Eine Straße weiter: Milan, der einen Laden führt, so schmal, dass man nicht neben­einander drinstehen kann. Wäre Dan nicht mit ihm bekannt, wären wir sicherlich an dem unscheinbaren Geschäft mit den verblassten Auslagen vorbeigegangen. Aber Milan verkauft nicht nur Lebensmittel, sondern auch Spielzeug, das er selbst geschnitzt hat. Als Material hat er das Holz verwendet, das der Hurrikan „Sandy“ 2012 auf seinem Weg durch New York übrig gelassen hat. Jedes Stück ist ein Unikat. Aus dem Verschnitt haben Kinder aus der Gegend noch kleine Installationen gebaut und bunt angemalt. Und plötzlich lebt man mit diesen Menschen. Eben noch war man nur ein Tourist, stand außerhalb. Jetzt ist man mittendrin in verschiedenen Biografien. Nimmt teil und Anteil.

Ja, sie wollen mehr Touristen, sagt Dan. Aber – und hier führt er den Satz von vorhin weiter – nicht zu viele! Auch er sieht die Gefahr der kompletten Gentrifizierung. Dass das Viertel wie zum Beispiel Williamsburg durch eine zu schnelle Veränderung und durch zu viele Touristen im Endeffekt verliert. Weil alte Häuser neuen weichen müssen. Weil hippe Läden eröffnen und die alten verdrängen, die doch das besondere Ambiente schaffen und erhalten. Weil Mieten zu hoch werden und junge Familien sich erneut umorientieren müssen. Manche Tage gibt es schon jetzt kaum noch freie Parkplätze, sagt er. Ob sie die Gratwanderung schaffen? Er zuckt mit den Schultern. „I really hope!“, sagt er.

Aber dennoch: Wer New York besuchen will, tut gut daran, sich hier ein Zimmer zu nehmen. Die Hotels sind bezahlbar, die Gegend bietet Bars jenseits vom Touri-Hype mit Bier für vier Dollar, Restaurants zwar mit weniger Glamour als in Manhattan, aber dafür günstiger und mit viel Geschichte wie das von Gianna – sowie abends ruhige, stressfreie Straßen. Und doch ist der Weg nach Manhattan nicht weit. Mit der Subway dauert es rund zehn Minuten – und schon ist man mitten im quirligen Manhattan, zwischen Empire State Building und dem Battery-Park, zwischen dem World Trade Center und der Fifth Avenue.

Tipps & Informationen

Anreise: günstig z. B. mit Wow Air über Island nach New York, www.wow-air.de

Übernachtung: zentral liegt z. B. das Wyndham Garden Long Island City Hotel, DZ/F ab 89 Dollar (entspricht 81 Euro), www.wyndhamhotels.com

Besichtigung: Der City-Pass ermöglicht Rabatte und freie Eintritte zu vielen Sehenswürdigkeiten, Infos unter de.citypass.com/new-york

Auskunft: www.nycgo.com

(Die Reise wurde unterstützt von Wow Air und NYC & Co.)