Lhasa. Im abgelegenen Kyi-Chu-Tal erlebt man den Alltag Tibets – ohne chinesische Kontrolle. Bei herzlichen Menschen und in toller Landschaft.haben Touristen die seltene Gelegenheit

Weinend hockt der siebenjährige Tezin auf dem Gerstenfeld. „Gestern ­habe ich die Hälfte unserer Ernte verbrannt“, schluchzt er, während ihm die Tränen über das Gesicht kullern. Tags zuvor hat der schmächtige Junge auf dem Feld mit Streichhölzern gespielt und dabei ein Feuer entfacht, dessen kleine Flammen in ­Sekundenschnelle zu den aufgestapelten ­Getreidehaufen übergesprungen sind. Nun ist er umringt von seinem Onkel Plema und der zehnköpfigen Familienschar. Nur Oma Tsering fehlt. Sie hat auf den Schreck erst mal ein Chang getrunken, dann noch ei­nige mehr, und nun schläft sie ihren Rausch aus.

In dem 200-Seelen-Dorf Una im Kyi-Chu-Tal, rund 150 Kilometer und fünf Jeep­stunden nordöstlich von Tibets Hauptstadt Lhasa, ist Erntezeit – eine ganz besondere Zeit, die nur vier Wochen im Jahr andauert. Hier ­leben die ­Tibeter – abseits der chinesischen Kontrollen – als Selbstversorger von dem, was sie an­bauen. Und das ist hauptsächlich Gerste: für das Nationalgericht Tsampa, einen Brei aus geröstetem Korn, und das selbst gebraute Chang-Bier.

Das Kyi-Chu-Tal, das Tal des Glücks­flusses, liegt auf über 4000 Meter Höhe. Hier, auf dem tibetischen Hochplateau, schlängelt sich der Kyi Chu über 100 Kilo­meter durch hellgrünes Weideland. Vorbei an Herden von Yaks und Schafen, die an ­seinen Ufern grasen, bahnt er sich den Weg zwischen samtenen Berghängen hindurch. Sein eiskaltes Wasser ist glasklar, und selbst die tiefste Stelle des Flusses macht nur gerade mal einen Meter aus. Der Kyi Chu ist ein Nebenarm des Tsangpo, des heiligen Flusses, der Tibet von West nach Ost durchläuft und als Brahma­putra in den Golf von Bengalen mündet.

Nur wenige Besucher in diese Gegend

Plema hatte für heute eine andere Begrüßung erwartet. Fröhlich und laut geht es normalerweise zu, wenn er, der mit Cowboyhut aussieht wie ein kanadischer Wildhüter, aus der Stadt zurück ins Tal kommt. Denn seit er als Tourguide für eine tibetische Agentur in ­Lhasa arbeitet, verschlägt es ihn kaum noch zu seiner Familie nach Una.

Schon immer ver­irrten sich wenige Besucher in diese Gegend. Die meisten scheuen die beschwerliche Anfahrt über serpentinenartige Schotterpisten und 5000 Meter hohe Pässe, ziehen Orte im Süden wie Shigatse und Gyantse vor oder ­bleiben gleich in der Hauptstadt. Dort, wo chinesisches Militär allgegenwärtig ist, sind viele Tibeter misstrauisch und scheu gegenüber Fremden.

Nicht so im Kyi-Chu-Tal. Hier sind die Einheimischen so offen gegenüber Besuchern, dass sie sie durchaus in ihr Haus einladen. Selbst eine Übernachtung mit Familien­anschluss ist möglich. Das einzigartige Erlebnis ist so ganz und gar nicht im Sinne der ­chinesischen Regierung, offiziell verbietet sie derartige Kontakte. Dennoch haben insbesondere junge tibetische Agenturunternehmer in Lhasa das nötige Selbstbewusstsein, sich nicht von der Regierung einschüchtern zu ­lassen und Wege zu finden, interessierte Touristen in einer tibetischen Familie den Alltag erleben zu lassen.

Tibetischen Häuser schmiegen sich majestätisch ins Gebirge

Und der soll authentisch sein. So kann es einige Tage dauern bis eine Familie gefunden ist, die die Besucher für eine Nacht in ihr traditionelles Haus aufnimmt. Mit ihren bunten Fenstern und zahlreichen Türmchen schmiegen sich die tibetischen Häuser fast majestätisch in das Gebirge. Tatsächlich sind sie jedoch extrem einfach, eine Kombination aus Wohnhaus und Yakstall. So auch das Elternhaus Plemas.

Der 30 Quadratmeter große Hauptraum im ersten Stock ist zugleich Wohn-, Schlaf- und Esszimmer. In einer Ecke prangt eine Kommode mit farbenfrohen Türen, darauf ein halbes Dutzend armlanger Thermoskannen. An den Wänden stehen Bänke, mit Teppichen gepolstert. Hier schläft die 59-jährige Tsering, Plemas Mutter und Tezins Oma ihren Rausch aus. Im Erdgeschoss schnauben die Yaks um die Wette. Sie sollen etwas von ihrer Wärme in den darüber liegenden Raum abgeben.

Durchschnittliche Temperatur: ein Grad Celsius

Um sieben Uhr abends ist es draußen stockfinster. Es weht ein eisiger Wind. Nur ein Grad Celsius beträgt die durchschnittliche Jahrestemperatur in dieser Höhe. Im Sommer, wenn die Sonne steil auf die kleinen Dörfer scheint, lässt es sich hier tagsüber gut aushalten. „Wer diese Landschaft einmal gesehen hat, den lässt sie nicht mehr los“, so Plema, als er seiner Familie vom heißen Yakbuttertee einschenkt. Die sitzt gemeinsam neben der schlafenden Tsering in dicken Jacken um die einzige Lampe des Hauses und lauscht seinen Erzählungen von der gestrigen Fahrt.

Über das Örtchen Phongdo, 25 Kilometer westlich von Una, wo neben den zehn einstöckigen Flachbauten inmitten der Fünftausender zwei Tibeter mit blutverschmierten Händen auf der staubigen Straße eine Plastikplane ausgebreitet haben. Darauf ein Haufen frisch geschlachteter Yakteile und ein Zehn-Liter-Metalltopf mit dem Blut des Tieres. Sie machen Blutwurst. Die ­Inhaberin des Dorfrestaurants hackt derweil auf einem abgesägten Holzstamm Kohl in ­grobe Stücke. Der kommt in die scharfe ­Nudelsuppe, die mit Stäbchen gegessen wird – eine Spezialität am Kyi Chu.

Neffe Tezin will, wie immer, mehr wissen und löchert seinen Onkel mit Fragen. Über das Tidrum Nonnenkloster, ganz im Osten des Kyi-Chu-Tals, wo die tibetischen Pilger nackt in heißen Quellen baden und das Reting Kloster, das rund 30 Kilometer nördlich von Phongdo abgeschieden inmitten eines mystischen Wacholderwaldes liegt.

Mit mehr als 950 Jahren ist es eines der wichtigsten Klöster der Gelbmützen-Schule in ganz Tibet. Schon den Dalai Lama hat es in seinen Bann gezogen – wohl auch wegen des verwunschenen Waldes, von dem die Mönche sagen, seine 25 ­Meter hohen Bäume seien aus den zu Boden gefallenen Haarsträhnen des Klostergründers erwachsen. Während der Kulturrevolution von der Roten Garde zerstört, wird das Kloster langsam wieder aufgebaut. „Nur für männliche Besucher öffnen die Mönche den inneren Schrein mit der kostbaren Götterstatue“, schließt Plema seine Erzählungen ab.

Wer auf die Toilette muss, geht zu den Yaks in den Innenhof

Die Nacht im tibetischen Haus ist kalt. Während der Großteil der Familie in dicken Jacken im Hauptraum schläft, dienen Plema einfache Holzkisten als Betten, in der Gebetskammer nebenan. Trotz des Polsters aus zwei Teppichen eine harte Angelegenheit. Räucherstäbchen verströmen süßlichen Duft aus einem kleinen Opferaltar, nächtliche Minustemperaturen ziehen durch die dünnen Wände und undichten Fenster in den Raum. Ein wenig Licht kommt vom Mond. Totenstille.

Wer auf Toilette muss, geht in die Kälte, zu den Yaks in den Innenhof. Die Tibeter sind es gewohnt. Am nächsten Morgen wirbelt Tsering putzmunter allein durch das Haus. Sie hat ihren Rausch ausgeschlafen, der Schreck der verlorenen Ernte ist überstanden. Die Familie ist auf dem Feld, in der Schule oder zum Wasserholen an der Dorfpumpe. Für Plema heißt es Abschied nehmen, er soll von der Hauptstadt eine Touristengruppe nach Shigatse ­begleiten. Sicher werden wieder einige Monate vergehen, bis er aus Lhasa zu seiner Familie an den Kyi Chu zurückkommt, in das fried­liche Tal, dessen Bewohner scheinbar gar nichts aus der Ruhe bringen kann.

Tipps & Informationen

Anreise z. B. mit Lufthansa und Air China über Frankfurt und Chengdu oder über München, Peking und Chengdu nach Lhasa.

Touren Ab Lhasa bieten Tischler Reisen (Drei-Tage-Tour, www.tischler-reisen.de) und Marco Polo (Ergänzung einer Tibet-Reise, www.marco-polo-reisen.com/ individuell) das Kyi-Chu-Tal individuell, aber ohne Familienanschluss an. Wer Wert auf Einblick ins Familienleben legt, wendet sich an eine tibetische Reise­agentur in Lhasa, die Tourguides aus dem Tal beschäftigt, die Besucher mit zu ihrer oder zu einer Familie in der Nachbarschaft nehmen. Wer in einer chinesischen Agentur nachfragt, bekommt in der Regel ein „geht nicht“ zu hören, denn der Kontakt zu tibetischen Familien ist offiziell unerwünscht, unter Strafe steht er jedoch nicht.

Auskunft Fremdenverkehrsamt der Volksrepublik China, Ilkenhansstraße 6, 60433 Frankfurt am Main. Tel. 069/52 01 35, www.china-tourism.de