Nanxun. Geschwungene Brücken, schmale Kanäle, enge Gassen: Nanxun in der Nähe von Schanghai ist die schönste der chinesischen Wasserstädte.

„Schau mein Blatt an“, fordert der 67-jährige Zhi lauthals seinen gleichaltrigen Nachbarn Ming auf und hält ihm seine Karten vor die ­Nase. „Damit werde ich gewinnen!“ Sofort geht ein Schmunzeln durch die zehnköpfige Zuschauerschar, die sich dicht gedrängt um Zhi und seine drei Mitspieler versammelt hat. In der schattigen Holzpagode der Xi-Da-Gasse in dem Wasserstädtchen Nanxun, zwei Busstunden südwestlich von Shanghai, ist es allen Anwesenden klar: Zhi ist gerade dabei, etwas zu verspielen, das ihm besonders wichtig ist – seinen Regenschirm. Denn sein Blatt ist schlechter, als er ahnt.

Es ist Mittagszeit in der Altstadt. 38 Grad Celsius. Zhi und die älteren Herren mit Strohhut, dicken Brillen, Mao-Stoffschuhen und faltenreichen Gesichtern spielen Chudadi, ein chinesisches Kartenspiel. „Heute musst du wohl ohne Schirm durch die pralle Sonne nach Hause laufen“, bemerkt Zhis Frau leise. Sie weiß um die Schatten spendende Wirkung dieser simplen Klappschirme – schließlich benutzt die im chinesischen Sommer jeder. In Nanxun sind die engen grauen Gassen entlang der schmalen Kanäle dann, von oben betrachtet, mit vielen bunten Farbklecksen verziert.

Nanxun ist eine von nur noch sechs im ursprünglichen Baustil erhaltenen Wasserstädte im chinesischen Jiangnan. Die Region südlich des Jangtse durchziehen viele kleine Flüsse. Sie verbinden die Wasserstädte über Umwege von mehreren Kilometern mit dem alten Kaiserkanal, der in Peking startet und in der Provinzhauptstadt Hangzhou endet. Nanxun, Luzhi, Tongli, Wuzhen, Xitang und Zhouzhuang heißen die Örtchen. Die Einheimischen sagen, Nanxun sei die schönste der sechs Städte – vielleicht, weil es ein ruhiges Plätzchen ist, vom Tourismus bislang weitgehend unberührt.

Behörden investieren viel Geld, um das Gesicht der Altstadt zu erhalten

Die lokalen Behörden haben viel Geld in Nanxun investiert, um die tausendjährige Architektur zu erhalten. Und sie investieren weiter. In das Kanalnetz, das sich über eine Länge von gut vier Kilometern erstreckt, in die fast gleich langen traditionellen Kopfsteinpflasterwege und in die winzigen Wohngebäude. Die knapp 4000 Bewohner der Altstadt wissen diese Unterstützung zu schätzen. Sie ermöglicht es ihnen, ihre Kultur und den traditionellen Lebensstil zu bewahren.

Der offizielle Eingang der kleinen Wasserstadt, ganz in der Nähe der Kartenspielerpagode, gleicht der theaterähnlichen Kulisse eines chinesischen Spielfilms. Gleich rechts liegt der Tempel zur Lotusblume mit seiner verschnörkelten Holzfassade. Daneben ein vier Meter breiter Kanal, auf dem zehn Boote mit hübsch verzierten Holzdächern warten. Ein hundert Meter langer Steinweg säumt den Kanal. Kleine, bunte Stände bieten hier alles Nötige für einen Tag in dem sommerheißen Wasserdorf: eisgekühlte Cola, die zähe Süßigkeit Tang, Fächer gegen die Hitze.

Hinter der ersten Biegung beginnt dann das authentische Nanxun, das historische, bei dem sich der alte Ortskern ausschließlich um die engen Wasserstraßen konzentriert. Winzige, weiß getünchte Häuser mit schwarzen Ziegeldächern und verzierten Holzbalken stehen wie Zinnsoldaten Seite an Seite. Sie lassen einen Blick auf das ursprüngliche chinesische Leben zu, so wie es vor 750 Jahren war, als die Stadt gegründet wurde. Leise und mysteriös ist die Stimmung, in den Gassen der drei Quadratkilometer großen Altstadt. Ein angenehmer Kontrast zur lauten, hektischen Großstadt Shanghai.

Es gibt nur einen einzigen Wasserverkäufer im Ort

Gemächlichkeit ist hier angesagt, Eile ein Fremdwort. In der Nanxi Jie, der Süd-West-Gasse am Kanal, hockt eine Frau in einer winzigen Wohnung auf einem niedrigen Holzblock. Sie beobachtet die Menschen, die sich vor ihrer Haustür träge über das holprige Kopfsteinpflaster bewegen. Ab und an steht sie auf, nimmt eine Handvoll Kanalwasser aus einem rosafarbenen Plastikeimer und benetzt damit die alten Pflastersteine. „Damit es hier nicht so staubt“, sagt sie.

Auf der anderen Seite des Kanals, in der Nandong Jie, der Süd-Ost-Gasse, hat sich der einzige Wasserverkäufer des Örtchens zwischen Sägespänen und hübsch gestapelten Holzscheiten niedergelassen. Er feuert den deckenhohen Ofen in seinem Haus an. Nach und nach legt er die einzelnen Holzscheite in die Öffnung des Ofens. Dicke Wollhandschuhe verhindern, dass sich ihm Splitter in die Finger bohren. Mit riesengroßen Kannen stehen die Anwohner vor ihm und lassen sie sich für zwei Yuan, umgerechnet 30 Cent, bis zum Rande füllen. Denn sein heißes Wasser – so heißt es – schmecke sogar ohne Tee.

Noch im 20. Jahrhundert war die Seide aus Nanxun weltbekannt

Als der Fluss vor Jahrhunderten nicht nur das Trinkwasser für die Bevölkerung lieferte, sondern auch der wichtigste Transportweg war, gruben die Gemeinden zahllose Kanäle, um den Bootsverkehr zwischen ihren Städten zu erleichtern. Damit wurden die angrenzenden Orte zu wichtigen Handelszentren, und der Wohlstand kam. Künstler und bekannte Schriftsteller erlagen dem Charme der Gemeinden, hochrangige Beamte ließen sich hier nieder und legten ihre Ersparnisse in Hofhäusern an. Auf den Wassermärkten trafen sich Tausende von Menschen, Fischerboote und Handelskähne lagen Seite an Seite, Wasserbambussprossen und Lotuswurzeln wurden verkauft. Im Frühjahr transportierten die Boote wertvolle Seide und Brokat. Noch im 20. Jahrhundert war Nanxun für seine Seidenproduktion weltbekannt. Auf internationalen Seidenmessen in Panama, San Francisco und New York räumten die Nanxuner Preise ab.

Später zerstörten allerdings Kriege, die Kulturrevolution der 60er- und 70er-Jahre und danach die rasante Wirtschaftsentwicklung viele dieser historischen Wasserlandschaften. In der Altstadt von Nanxun stehen aber auch heute noch Frauen mit ihren geflochtenen Bastkörben am Kanal und bieten die grünen Lotuswurzeln an. Auch die Seidenherstellung trägt mittlerweile wieder einen großen Teil zum jährlichen Handelsvolumen des Ortes bei.

Die Bewohner der Altstadt bekommen davon jedoch kaum etwas mit. Sie leben hier traditionell fernab der Seidenfabriken. So wie der Mann in der kleinen Seitengasse Bianming Lu, der mit nacktem Oberkörper und Badelatschen auf einem Kinderbambusstuhl hockt und die gerade gerupfte Ente wäscht. Ein Abendmahl zu Ehren seiner Nachbarn soll es werden, denn sie haben gerade Nachwuchs bekommen. Nach alter Nanxuner Tradition beschenken die jungen Eltern am Sanzhao, dem dritten Tag nach der Geburt ihres Babys, Nachbarn und Verwandte mit Nudeln. Diese wiederum schlachten ein Federvieh, angeln Fisch und kochen aus dem Ganzen ein köstliches Mahl.

Ob das beschauliche Leben in dem historischen Wasserstädtchen auch in Zukunft so bleiben wird, ist allerdings fraglich. Denn von offizieller Seite gibt es vielfältige Pläne, in Nanxun den Tourismus anzukurbeln.

Bislang jedoch hält die Tradition den äußeren Einflüssen noch stand. Zhi und seine Nachbarn können ihre Kultur und ihren traditionellen Lebensstil tagtäglich aufs Neue bewahren und sich hoffentlich noch lange sorglos in den historischen Pagoden ihrer schönen Heimatstadt zum Kartenspiel treffen.

Tipps & Informationen

Anreise z.B. ab Berlin mit KLM über Amsterdam oder Turkish Airlines über Istanbul nach Schanghai.

Unterkunft z.B. im Liuyinlu Hostel im Baijian-Pavillion direkt in Nanxuns Altstadt (DZ ab 25 Euro, Tel. 0086-572-3019772, Nr. 76 an der Ostseite des Baijian Lou Kanals). Das historische 2-Sterne Yinyuan Hotel liegt in einem schönen Garten (DZ ab 32 Euro, Tel. 0086-572-3912025, Bianming Road 31). In Schanghai hat das Pudong Shangri-La (DZ ab 284 Euro, Tel. 0086-21-68828888, www.shangri-la.com) exquisite Zimmer.

Ausflüge ab Schanghai nach Nanxun inkl. Transfer, Fahrer, Eintritt in die Wasserstadt und Deutsch sprechender Reiseleitung bieten zum Beispiel Gebeco (Tel. 0431-54460, www.gebeco.de), Tischler Reisen (Tel. 08821-93170, www.tischler-reisen.de) und China Tours an (Tel. 040-8197380, www.chinatours.de).

Weitere Informationen beim Fremdenverkehrsamt der Volksrepublik China, www.china-tourism.de