Obergurgl. Nicht wenige Musikfreunde aus dem Norden wagen sich im Tiroler Ötztal ganz hoch hinaus. Dort können sie einen Kurs im Jodeln belegen.

Gut 20 Wanderer stiefeln die Hänge des Gurgler Tals hinauf ins Abenteuer. Doch ihr Ziel ist nicht der Klettersteig, und sie planen auch keine Wildwasserfahrt auf der Ache. Ihnen steht der Sinn nach etwas viel Verwegenerem: Sie wollen jodeln! Obwohl sie alle Flachlandtiroler sind ist ihr Drang zum Jubilieren stärker als die Angst, sich zu blamieren.

Seit einigen Jahren schon entwickelt sich Jodeln ausgerechnet in den Städten der norddeutschen Tiefebene zum Trend. Weniger als Brauchtumspflege denn als Stimm-, Körper- und Selbsterfahrung. Sigurd Bemme, von Haus aus Schauspieler, bietet Jodelwanderungen im Tiroler Ötztal an, sinnigerweise in Obergurgl. Eine Freundin hat ihn, den Hannoveraner in Berlin, vor Jahren „mit alpinen Urgesängen angefixt“, nun initiiert er städtisches Publikum in diese Kunst. Es ist eine Kunst für jedermann. Ein Sprechgesang auf halbem Weg zwischen Ruf und Arie.

Die Krankengymnastin, den Zahnarzt, die Laborantin, den Reporter, den Lehrer, sie alle eint der Vorsatz, etwas Unerhörtes zu tun („sich mehr trauen“, „sich freisingen“) und dabei anderes zu lassen („loslassen“, „geschehen lassen“, „rauslassen“). Das Ötztal steht gemeinhin für Spaßtourismus und Remmidemmi. Doch schon seit 37 Jahren finden in Obergurgl auch die Ötztaler Kulturwochen statt, unter Federführung der Hamburger Volkshochschule. Laien, Studenten und Berufsmusiker frönen dabei der Begeisterung fürs Musizieren. In dem fast 2000 Meter hoch gelegenen Dorf begeben sie sich in eine Art schöpferische Selbstverbannung, um neue Stücke zu erarbeiten.

Mancher fragt sich, ob hier Werwölfe überdauert haben

Inzwischen kommen einzelne Mitwirkende sogar aus Nagano, San Diego und Tel Aviv herbei. Insgesamt finden sich über mehrere Wochen hinweg 300 Teilnehmer zusammen, ob für Gitarrenunterricht oder Chorgesang, Folkloretänze oder den Kammermusikkurs. Bemmes Jodellehrgang ist als Schmankerl neu hinzugekommen.

Nach halbstündigem Aufstieg formen die Teilnehmer einen Kreis. Ihr Blick ruht auf gleißenden Gletschern und tobleroneförmigen Spitzen. „Sonst stehen wir auf Laminat oder auf Beton“, tönt der Kursleiter, „aber heute stehen wir da, wo wir stehen sollen: nämlich auf einem Berg. Zieht das mal hoch, was da unter euch drunter ist!“ Nach allerlei Lockerungsübungen und Grimassen folgen Lektionen zur Atem- und Stimmführung. Bemme geht reihum, damit ihm keiner ein O für ein U vormacht.

Lange Zeit wurde Jodeln eher als reaktionäre Kampfsportart denn als musikalische Ausdrucksform angesehen. Doch es gibt auch ganz andere Spielarten. Wer einmal erlebt hat, wie die Appenzeller Bauern ihr Vieh herbeisingen, bleibt dem archaischen Zauber dieses sogenannten Naturjodels verbunden. Es sind sanfte, elegische Gesänge, Welten entfernt vom krachledernen Stumpfsinn der Fernsehunterhaltung.

Mancher Wanderer mag sich fragen, ob im Ötztal womöglich Werwölfe überdauert haben. Ein Grunzen, Schnalzen und Jaulen tönt durch den Zirbenwald; Laute, wie die meisten Kursteilnehmer sie seit der Kindheit nicht mehr geäußert haben. Nach den Übungen sind sie bereit für die Gesänge. Manche klingen ernst und fast ein wenig melancholisch, andere heiter und beschwingt.

Das Jodeln gilt als Kur bei Depressionen, Burn-out und anderen Malaisen

Nach zwei, drei Übungsstunden und anschließender Rast teilt sich die Gruppe. Die einen steigen weiter auf, vorbei an Wasserfällen und Hochmooren bis an die Zungenspitze der Gletscher, wo sie oft aus freien Stücken weiter üben. Die übrigen trotten zurück ins Dorf. Dabei passieren sie die Bildhauerwerkstatt, die ebenfalls im Rahmen der Kulturwochen stattfindet. Unter einer ganzen Plantage von Sonnenschirmen hämmern, schleifen und polieren sieben Probanden ihre Werkstücke. „Hau rein mit Liebe!“, lautet das Motto von Kursleiter Thomas Behrendt. Zum Abschluss können die Plas­tiken im Piccard-Saal bewundert werden.

Wie das Steineklopfen, so hat sich auch das Jodeln schon oft als Kur bei Depressionen, Burn-out-Zuständen und anderen Zivilisationsmalaisen bewährt. Im Lauf des fünftägigen Kurses verschwindet so manches Zipperlein, vergrämt durch heilsame Schwingungen. Das müsste es auf Krankenschein geben, plädiert eine Teilnehmerin.

Konstitutiv für den Jodler ist der kleine Salto von der Bruststimme ins Falsett und zurück. Mal klappt es, mal klappt es nicht, mit jedem Tag klingt es sonorer. Der Kurs gerät zur stimmlichen Entdeckungsreise, bei der jeder sein eigenes Unter-, Ober- und Hochgurgl erkundet. Es fühlt sich an, als würde in einem baufälligen Haus ein gläserner Fahrstuhl in Betrieb genommen.

Wenn schließlich alles übereinstimmt, die Vokale, die Gruppe und die Landschaft, stellt sich ein holdes Delirium ein. Dann entpuppt sich Jodeln als Trancetechnik, als alpenländisches Mantra. „Es öffnet, befreit und macht glücklich“, versichert Bemme. Das Beste folgt immer zum Schluss: der Juchzer! Er kommt aus dem Erdinneren, fährt durch den ganzen Menschen hindurch und hallt in der Arena der Dreitausender wider. Jodeln ist eine Liebeserklärung an die Berge. Und was für eine!

Info und Buchung: www.sigurdbemme.de, www.oetztal.com, www.vhs-verein.de
(Unterstützt durch Ötztal Tourismus.)