Longyearbyen. Auf einer Schiffstour in Spitzbergen ist die Sonne im Sommer ständiger Begleiter. Doch herrschen Temperaturen um den Gefrierpunkt.

Wer in Longyearbyen auf Spitzbergen aus dem beschaulichen Flughafengebäude tritt, wird selbst im Hochsommer von Temperaturen knapp über dem Gefrierpunkt empfangen und sogleich durch ein Schild auf Entfernungen zu anderen Orten auf der Welt aufgeklärt. Bis zum Südpol sind es 18.692 Kilometer.

Svalbard, die Hauptinsel von Spitzbergen, liegt nur gut vier Flugstunden von Hamburg entfernt – näher als die Kanaren also. Wer sich für den Norden entschieden hat, dem offenbart sich eine Welt, die einer Werkstatt der Naturkräfte gleicht. Der Isfjord liegt ruhig und majestätisch da. In der Ferne ragen schnee­bedeckte Berge in den Himmel – sehr oft der Spitze eines Pfeiles ähnlich. Man versteht, ­warum der niederländische Entdecker des ­Eilands, Willem Barents, Spitzbergen seinen Namen gab.

In den Sommermonaten ist die Sonne dem Besucher ein ständiger Begleiter. 24 Stunden am Tag ist es hell, und spätestens nach einer Woche sehnt sich der gewöhnliche Mitteleuropäer, der den Wechsel zwischen Tag und Nacht kennt, nach der Dunkelheit. Morgens, mittags, abends – die Tageszeiten verschwimmen zusehends. Nach zwei, drei Tagen verliert man sein Zeitgefühl.

Die „Nordstjernen“, einst Postschiff, wird heute für Expeditionen genutzt.
Die „Nordstjernen“, einst Postschiff, wird heute für Expeditionen genutzt. © Schirg | Oliver Schirg

Abweisend gibt sich das Land. Spitz­bergen – rund 380 Kilometer lang und etwa 220 Kilometer breit – gilt gemeinhin als arktische Wüste. Der Begriff Wüste weckt allerdings eine falsche Assoziation, auch wenn auf der Inselgruppe ähnlich wenig Niederschlag fällt wie in Wüstengegenden. Es gibt keine Bäume, wie wir sie von Europa her kennen, keine Sträucher. In geschützten Ecken aber überraschen den Besucher Gras und Moos. Dass hier oben im hohen Norden überhaupt Leben möglich ist, liegt am Westspitzbergenstrom. Der Ausläufer des Golfstromes transportiert entlang der Westküste verhältnismäßig warmes Wasser ins Nordpolarmeer und schafft so ein Klima, das trotz seiner Rauheit Leben und Überleben von Menschen, Tieren und Pflanzen ermöglicht.

Einige der mehr als 2100 Gletscher sind bis zu 600 Meter dick

Dennoch – noch immer ist die Eiszeit auf Spitzbergen allgegenwärtig: Rund 60 Prozent des Eilands sind nach wie vor mit einer ­„lebendigen“ Eismasse bedeckt. Mehr als 2100 Gletscher gibt es auf den rund 400 Inseln und Schären Spitzbergens, manche sind bis zu 600 Meter dick. Einer von ihnen, der Austfonna, ist der größte Europas. Hinzu kommen unbewachsene und mit Geröll bedeckte braun-schwarze Berge, manchmal von rötlichen Schichten durchsetzt. Die klimatischen Bedingungen sind herausfordernd: Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei minus 6,7 Grad Celsius, im europäischen Sommer schafft es das Quecksilber im Thermometer kaum über die Zehngradmarke. Wolkenfetzen jagen ein­ander, manchmal hüllen schleierige Nebel­wolken die Berggipfel ein. Immer wieder regnet es oder gibt es Schneegriesel.

So unerschütterlich die spitzen Berge wirken, so zerbrechlich erscheinen sie zugleich. Es ist oft das Licht, das eine betörende Magie entfacht und die Wahrnehmung der Landschaft zu den unterschiedlichen Stunden des Tages verändert. Manchmal kann der Betrachter die schneebedeckten Gipfel im bläulichen Dunst nur erahnen. Wenig später strahlen sie im gleißenden Sonnenlicht und ihr Schattenwurf zeichnet beeindruckende Schatten auf den Schnee benachbarter Berge.

Fotograf und Spitzbergenexperte Heiko Kühr leitet die Tour.
Fotograf und Spitzbergenexperte Heiko Kühr leitet die Tour. © Schirg | Oliver Schirg

Vor uns liegt eine Fünftagestour mit der „Nordstjernen“. Einst gehörte das Expeditionsschiff dem norwegischen Unternehmen Hurtigruten. Heute ist es in den Sommermonaten in seinem Auftrag unterwegs und fährt bis zu 120 Passagiere die Küste von Spitzbergen entlang. Der Wind weht am Tage kaum, das Wasser, vor allem in den Fjorden, liegt teilweise spiegelglatt da.

Egal mit wem man spricht – viele jener Menschen, die auf Spitzbergen leben und arbeiten, wollten eigentlich nur ein paar Monate bleiben. Doch dann hat dieses karge Land, das im Winter für gut drei Monate in völliger Dunkelheit versinkt, sie fasziniert und nicht mehr losgelassen. „Wenn du einmal hier gewesen bist, kommst du immer wieder“, sagt der 67-jährige Kapitän der „Nordstjernen“, Tormod Karlsen. „Es ist wie ein Virus“, ergänzt Expeditions­leiter Heiko Kühr, der in Rostock zu Hause ist. „Wer in Spitzbergen bleibt, hat ein besonderes Verhältnis zur Natur und zum Leben. Hier trägst du Verantwortung für dich selbst.“ Wer hinaus in die Natur wolle und nicht gut vorbereitet sei, „der riskiert sein Leben“. Durch Erfrierungen im Winter oder – im schlimmsten Fall – den Angriff eines Eisbären. „Ein Fehltritt hier kann tödlich sein“, sagt der 47-Jährige.

Viele Wege sind nur mit einem Hubschrauber möglich

Es ist auf Spitzbergen untersagt, die Handvoll Ortschaften allein und ohne Be­gleitung eines in der Regel bewaffneten ­Guides zu verlassen. „Jede Wanderung will hier gut vorbereitet sein“, sagt Kühr. Anders als in Deutschland, wo selbst in einsamen Gegenden für Wanderer „die Zivilisation nah ist“, sei es durch eine befahrene Straße oder Mobilfunkempfang. „Hier auf Spitzbergen gibt es außerhalb der Ortschaften nichts.“ Auf ­ganze 42 Kilometer kommt das „Straßennetz“ rund um Longyearbyen.

Wer ins 55 Kilometer entfernte (russische) Barentsburg will, muss den Helikopter oder das Schiff nehmen. Auch die Forschungsstation Ny-Ålesund, eine der nördlichsten Siedlungen der Welt, oder die sagenumwo­bene, inzwischen aufgegebene und unbewohnte Bergarbeitersiedlung Pyramiden sind zu einem vertretbaren Zeitaufwand nur so zu erreichen. An den „Stränden“ des Kongsfjordes wiederum fallen dem Besucher viele langgestreckte Haufen kleinerer Steine auf, fast so als hätte ein Straßenbauunternehmen den Grund für eine Asphaltstraße bereitet. Doch weit gefehlt: Wasser und Eis haben über viele Jahrhunderte hinweg kleine und große Steine auseinandersortiert. Experten sprechen von dem Phänomen des Frostmusterbodens.

Viele Menschen reisen nach Spitzbergen, weil sie einen in der Natur lebenden Eisbären mit eigenen Augen sehen wollen. Auch unsere Naturführer nähren immer wieder unsere Hoffnung, den „König der Arktis“ aus der Nähe betrachten zu können. Manchmal erinnert das an die Ankündigung eines großen Spektakels in einem Zirkus. Nur dass hier der Zirkus die freie Natur ist, und es beschleicht einen ein ungutes Gefühl, als Tourist auf „Eisbärenjagd“ zu gehen. Und sei es auch nur mit der Kamera. Im Woodfjord ist es dann so weit: Wir können – wenn auch aus sicherer Entfernung vom Schiff aus – einen einsamen Eis­bären beobachten. Unseren Reiseleitern ist die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Erleichterung deshalb, weil eigentlich die beste Zeit, einen „Polarbear“ in freier Wildbahn beobachten zu können, der Winter ist. Dann friert in Landnähe das Meer zu, der Ort, wo Eisbären am liebsten jagen.

Wanderungen dürfen nicht ohne bewaffneten Begleiter stattfinden

Erleichtert dürften unsere Guides auch gewesen sein, weil die Zahl der Eisbären zwar aufgrund des 1973 weltweit ausgesprochenen Jagdverbots wieder steigt – aber nicht so schnell, wie die Forscher hofften. In der Spitzbergenregion leben rund 3000 der stolzen Tiere – etwa 60 Prozent dessen, was möglich wäre. Zwischen 400 und 500 Kilogramm bringt ein männlicher Eisbär auf die Waage. Auf kurzen Strecken kann er im Angriffsmodus 40 Stundenkilometer erreichen oder am Tag bis zu 80 Kilometer weit schwimmen.

Die Sommermonate Juli und August eignen sich am ehesten, will man als Wanderer Spitzbergen erkunden. Allerdings müssen diese Touren bei der Verwaltung von Longyearbyen angemeldet werden. Außerdem kommt man auch im Sommer nicht um einen bewaffneten Begleiter herum, da Eisbären in Menschen einfach zu erlegende Beute sehen. Am sichersten ist es, sich einen der Anbieter von Hikingtouren in Longyearbyen auszusuchen und von ihm die – gern auch mehrtägige – Wanderung planen zu lassen.

Drei Monate dauert der Sommer auf Spitzbergen, und die Natur überrascht den Besucher immer wieder, wie wenig Pflanzen benötigen, um zu gedeihen. Hier und da fließt Wasser in kleinen Rinnsalen dem Fjord entgegen. Der Boden ist an manchen Stellen morastig, an anderen steinig. Von früheren Vulkanen sind einige kleine, harmlose Quellen übrig geblieben, am Ende des Woodfjords beispielsweise. „20 Grad ist das Wasser warm, auch im tiefsten Winter“, erzählt unser Naturführer Remy, und es gehört schon viel Vorstellungskraft dazu, seinen Worten Glauben zu schenken. Weitaus faszinierender sind die mächtigen rostig-roten Berge, die den Fjord begrenzen. Die durch den hohen Eisengehalt verursachte rötliche Farbe soll vor allem im Herbst bei untergehender Sonne ein prächtiges Farbenspiel liefern.

Von der leichten Anhöhe der Quellen haben wir einen guten Blick auf die „Nordstjernen“. Im Sommer fahre sie ständig rund um Spitzbergen herum, sagt Heiko Kühr. Fünf ­Tage dauere die Tour – einmal hoch zur nördlichsten Spitze, über den 80. Breitengrad hinaus bis zur Insel Moffen, wo wir – wenn auch nur durchs Fernglas – Walrösser beobachten können, und wieder zurück. Weiter hinaus ­fahre kaum ein ziviles Schiff, erzählt Kühr.

1956 wurde die „Nordstjernen“ in Hamburg bei Blohm & Voss gebaut. In den Jahren 2000 und 2014 wurde sie für exklusive Arktisreisen umfassend modernisiert. Dabei blieben der ursprüngliche Yachtstil und die Ausstrahlung als alter Atlantikkreuzer erhalten. Natürlich ist es laut, wenn man in seiner Koje liegt und nur eine Etage tiefer die acht Zylinder der Maschine stampfen. Die meiste Zeit verbringt man aber an Deck. Warm angezogen kann man sich kaum sattsehen an der betörenden Einzigartigkeit der Landschaft. Eine Sehnsucht meldet sich, ein Sehnen nach einem ursprünglichen Leben, von dem wir uns längst entfernt haben und das wir so auch nicht mehr leben würden wollen. Und doch bleibt etwas.

Tipps & Informationen

Anreise Ab Hamburg gibt es mit Lufthansa/Eurowings und Norwegian Direktflüge nach Oslo. Innerhalb Norwegens bieten SAS und Norwegian am Tag mehrere Flüge nach Longyearbyen – zum Teil mit Stopps.

Schiffsreisen Eine Sechs-Tage-Reise entlang der Küste Spitzbergens mit
der MS „Nordstjernen“ kostet z. B. bei Hurtigruten zwischen 1249 Euro
und 1999 Euro pro Person bei Doppel- belegung in einer Kabine (www. hurtigruten.de). Weitere Angebote unter www.polar-travel.com und www.poseidonexpeditions.com/de

(Die Reise erfolgte mit Unterstützung durch Visit Norway und Hurtigruten.)