Sassnitz. Ein Reiseführer von 1926 beschreibt Seebäder von Panker bis Sassnitz. Gibt es die Häuser von damals noch? Wir haben danach gesucht.

Ein alter Reiseführer, kindlicher Entdeckungstrieb und jede Menge Reiselust: Diese Mischung führte mich kürzlich die Ostseeküste entlang, auf der Suche nach Orten und Relikten aus längst vergangenen Zeiten. Die Sommerurlaube meiner Kindheit wurden in Kroatien verbracht, wo das Wasser immer sehr klar, sehr warm und sehr salzig war. Wenn ich dagegen als gebürtige Österreicherin meinen ersten Ostseebesuch in Erinnerung rufe, dann sehe ich mich nur mit eisigen Füßen und strähnigen Haaren in der Kälte stehen, getrieben von Regen und Sturm, meine dünne Jacke durchnässt.

Meine Kleidung entsprach nicht der unerwartet kalten Begrüßung, die für meine Verhältnisse zu herb, zu nass und viel zu unfreundlich war. So sehr ich es versuchte – selbst beim zweiten Besuch konnte ich diesem Klima nichts abgewinnen. Wo war die Sonne, wo die Wärme und wo der Sommer? Ich konnte es mir nicht so recht erklären, was die Besucher, die Reisenden und Touristen so schön an der Ostsee fanden.

Erst als sich der Frühsommer ankündigte und ich die Ostsee, die Dünen im Sonnenlicht betrachten konnte, war ich plötzlich wie gefesselt. Mein inneres Auge konnte die Schönheit kaum erfassen. Dieses goldglänzende Sonnenuntergangslicht hatte mich gefangen und lässt mich bis heute immer wieder an „meinen“ Hausstrand zurückkehren. Denn eines habe ich gelernt: Mit angemessener Kleidung kann man auch diesem Klima unendlich viel Schönes und vor allem Klärendes abgewinnen – einfach durchatmen!

Im Frühling fand ich beim Bummeln über einen Salzburger Flohmarkt Griebens Reiseführer „Die Ostseeküste – von Memel nach Flensburg“ aus dem Jahr 1926. Nachdem ich fast 30 Minuten mit dem Verkäufer gefeilscht hatte, wegging und wieder zurückkam, hatte ich sie beide mit dem Argument, dass ich wohl die Einzige in Salzburg sei, die einen veralteten Ostsee-Reiseführer kaufen will, in der Tasche. Er nahm meine fünf Euro, beglückwünschte mich zu meinem Schnäppchen und verabschiedete sich mit einem zaghaften Lächeln.

Suche nach den glanzvollen Zeiten vergangener Jahre

Ein Schnäppchen war dieser Reiseführer definitiv, aber auch in irgendeiner ­Weise noch zeitgemäß? Kaum zu Hause, las ich Beschreibungen, deutete die sehr gut erhaltenen Karten, lachte über Formulierungen wie „Gut, weil günstig!“ und begann, meine Route zu planen. Wie mag es heute wohl um die beliebtesten Orte der 20er-Jahre stehen? Gibt es noch Schätze und Orte im Verborgenen oder sind sie längst zu überlaufenen Hotspots mutiert? Ist noch irgendetwas vom Glanz der alten Zeiten übrig geblieben, über die dieser Reiseführer informiert? Und nicht zuletzt die Frage: Wage ich die Reise, wie im Reiseführer angepriesen, tatsächlich mit der Bahn?

„Die Bedeutung der Seebadeorte liegt hauptsächlich in dem Zusammenwirken von Seeluft und Seebad, deren stärkende und heilende Wirkung seit über 100 Jahren bekannt ist“, so steht es geschrieben. Meine Route sollte mich planmäßig vom Weissenhäuser Strand bis nach Rügen führen, denn einige Fotografien zeigten viktorianisch anmutende Fassaden, die so gar nicht in meine Vorstellung von dieser Gegend passten – und die wollte ich selbst sehen.

Der erste Stopp war die Farver Mühle, eine Erdholländer-Windmühle von 1828, die noch bis 1957 Farve und Umgebung mit frischem Mehl versorgt hatte. Heute ist sie in Privatbesitz, wurde aufwendig restauriert und dient auf vier Etagen als Ferienhaus. Das alte Müllerswerkzeug wurde zu dekorativen Elementen umfunktioniert und forderte meine Kenntnisse über das Handwerk. An der Wand lehnte unter anderem ein Dreschflegel aus Holz und Leder, der auch als Bauernwaffe bekannt war. Die malerische Umgebung könnte nicht ­romantischer sein, inmitten von Rapsfeldern steht dieses denkmalgeschützte Relikt auf einer Anhöhe und lädt zum Verweilen an.

In Binz ist noch kaum ein Hotel aus dem alten Buch zu finden

In der Mühle fand ich ein Buch über deutsche Gutshöfe und ihre Geschichten. Das nahe gelegene, bereits 500 Jahre alte Gut Panker mit seinen Pferden, dem Angebot an Kunst und Handwerk wollte ich nicht verpassen und es war definitiv den kleinen Umweg wert. ­Besonders die kleinen Läden und die ­informativen Gespräche mit den dort ansässigen Künstlern und Händlern, die gerade im Frühsommer ihre Geschichten erzählen wollen und sich in den ruhigen Minuten Zeit für die Besucher nehmen, hatten es mir angetan. Da fiel es dann leicht, einen kleinen „Künstleraufschlag“ zu bezahlen – Karte durchgezogen, und ich setzte meine Reise mit einem kleinen rosa Metallschwein im Handgepäck fort.

„Warnemünde, Hafenort von Rostock, liegt an der Mündung der schiff­baren Warnow in die Ostsee. 1925: 18.000 Badegäste. Warnemünde ist ein modernes, großes Seebad mit internationalem Charakter durch den Durchgangsverkehr nach Kopenhagen.“ Von Rostock über Warnemünde entlang der Küste bis nach Stralsund, wo das Kind in mir noch still darauf hoffte, einen Piraten namens Störtebeker zu treffen. Ein paar Schatzkisten schwerer überquerte ich die Brücke und setzte meine Füße auf Rügen. Fotografien zeigten ein his­torisches Seebad aus der Gründerzeit, pittoresk und strahlend weiß. „Hotels ersten Ranges: Dünenhaus, Strand­promenade 19, 40 Zimmer, Restaurant empfehlenswert.“ In Binz suchte ich verzweifelt nach den Adressen des Reiseführers, kaum ein Hotel aus dem Buch war zu finden, das ehemalige Dünenhaus ist heute ein Burger-Laden namens Peter Pane und die Promenade überrannt von zahllosen Touristen, die sich zur Seebrücke drängen.

Viele der schönen alten Hotels mussten Neubauten weichen

Ich zog weiter nach Sassnitz, dem nördlichen Ende der Bucht, denn ein ­Geheimnis, galt es noch zu lüften. In meinem Reiseführer war zwischen den Seiten eine alte Postkarte mit einer Zeichnung der Sassnitzer Promenade versteckt. Sie zeigte malerisch das „Hotel am Meer“ mit seinen Erkern und Giebeln – laut Reiseführer eine der zwei besten Adressen. Die edlen weißen Fassaden des Fürstenhofs, eines ehemals hoch renommierten Hotels, sind heute nur noch Fassaden. Das Hotel am Meer musste irgendwann privaten Ferienwohnungen und weniger schönen Neubauten weichen. Dennoch versprüht die Strandpromenade einen Hauch Historie, nicht zuletzt durch die einladenden Cafés mit Blick auf die See.

In der Bäckerei am Kurplatz fand ich sogar eine Zeichnung, die das Hotel am Meer als großflächiges Wandbild zeigte – wohl eine Hommage an die Geschichte dieses Seebads. Das Lichtspielhaus im Stadtkern hatte seine besten Tage auch bereits hinter sich gebracht. Hier erloschen die Lichter nach der letzten Kinoaufführung vor fast zehn Jahren. Heute ist es ein Gebäude, dessen Verfall unaufhörlich voranschreitet, und das, obwohl es bereits seit 2007 zum Kulturerbe gehört. Ein Bewohner erzählte mir sogar, dass dieses Kino bereits seit Jahren für unter 100.000 Euro zum Verkauf stehen soll – bestätigen konnte mir diese Zahlen keiner.

Früher fuhr man mit der Bahn, heute ist das Auto komfortabler

Der Reiseführer schreibt: „Sassnitz ist die Endstation der Rügenbahn, die infolge des Verkehrs mit Schweden nach dem Hafen weitergeführt wurde, wodurch die Ortschaft der Mittelpunkt der Verkehrslinie Berlin–Sassnitz–Trelleborg geworden ist.“ An dieser Stelle erkläre ich, dass ich dem Verkehrsmittel Bahn ein bequemeres und vor allem schnel­leres Fortbewegungsmittel vorzog – das Automobil. Als Inselsouvenir konnte ich einen echten Hühnergott ergattern – ein Stein mit einem Loch.

Traditionell aus dem slawischen Volksglauben übermittelt, handelt es sich dabei um einen Glücksbringer, der als Amulett einst das Geflügel vor bösen Geistern – vor allem vor weiblichen Hausgeistern (!) – schützen sollte. So ­erzählte es mir zumindest ein weißhaariger Sassnitzer mit Seemannsmütze.

Ich lächelte und spazierte dem Sonnenuntergang entgegen. Auf meinem Weg entlang der Kalksteinküsten, der malerischen Sandstrände und Dünen, sortierte ich meine Erlebnisse und ­Gedanken. Ich ließ die See auf mich ­wirken und fand eine für mich wichtige Erkenntnis: Auch wenn es die vielen ­Gebäude und Adressen heute in der Form so nicht mehr gibt, bleiben gewiss die unendliche Weite der See und die anmutige Küste.

Tipps & Informationen

Rundtour In der Zeit, als der Reiseführer erschien, im Jahr 1926, hätten Urlauber wohl die Zugfahrt durch die Seebäder auf sich genommen – heute ist man die Mobilität des eigenen Autos oder eines Mietwagens gewohnt. Wer doch mit der Bahn fährt, muss allein bis zur ersten Station in Panker drei- bis viermal umsteigen.

Übernachtung In Panker z. B. in der Farver Mühle, Ferienhaus ab 155 Euro pro Nacht, www.muehle-farve.de; in Warnemünde z. B. im Hotel am Leuchtturm, DZ ab 130 Euro; in Binz z. B. auf Rügen im Loev Hotel, DZ ab 172 Euro, und in Sassnitz z. B. im Kurhotel, DZ ab 72 Euro.

Literatur Aktuell sind Reisende mit „Merian Ostsee – Rügen, Usedom, Fischland, Darß“ sowie „Merian Ostseeküste – Schleswig-Holstein“ gut informiert. Jeweils 7,95 Euro.