Venedig. An einigen Plätzen in Venedig entkommt man auch zur Hauptsaison den Touristenmassen. Und auch dort gibt es Sehenswertes zu entdecken.

Es ist kaum zu glauben: Während sich auf dem Markusplatz Menschenschlangen auf ihren Wegen zum Campanile, in den Dogenpalast und in die Markuskirche scheinbar unentwirrbar verknoten und mit den Abertausenden Touristen mischen, die den mon­dänen Salon Venedigs unaufhörlich in einen Ameisenhaufen verwandeln, herrscht nicht mal 500 Meter Luftlinie davon entfernt geradezu himmlische Ruhe.

Ob es daran liegt, dass im Wirrwarr der Linienbootanleger hinter dem Markusplatz jenes eine Vaporetto nicht ganz einfach zu finden ist, das gleich als Erstes San Giorgio Maggiore anfährt, wissen wir nicht. Mehr als eine Handvoll Besucher ist es jedenfalls nicht, die sich an diesem Vormittag auf die ­winzige Insel mit dem gleichnamigen Kloster verirrt und den Glockenturm erklommen hat. Zur Belohnung gibt es nicht nur keinerlei ­Gedränge, sondern vor allem die wohl prächtigste Aussicht auf das zu Füßen liegende amphibische Gesamtkunstwerk Venedig. Mit Inseln und Kanälen. Mit Plätzen und Palästen. Mit Kuppeln und Kirchtürmen.

Tintorettos Spätwerk „Abendmahl“

Mit faszinierender Optik hat auch ein Leckerbissen unten in der Kirche zu tun. Wenn man nämlich an Tinto­rettos Spätwerk „Abendmahl“ vorbeigeht, scheint der Abendmahlstisch von der einen auf die andere Seite des ­Gemäldes zu springen. Für Gläubige ein Wunder, das der in Lichtfluten ­verklärte Christus scheinbar vollbringt; nüchtern betrachtet ist die grandiose optische Täuschung wohl doch eher der Raffinesse des Meisters zu verdanken.

Eine Malerin vor der Kirche San Giorgio Maggiore.
Eine Malerin vor der Kirche San Giorgio Maggiore. © picture alliance / United Archiv | picture alliance

Auch für die Entdeckung des ­Wunders Venedig braucht es keinen ­Erlöser; wie das Beispiel San Giorgio zeigt, reicht eine simple, aber effektive Strategie, um die Serenissima selbst in der heißesten Saison ganz entspannt zu entdecken.

Zum Beispiel in Cannaregio. Ve­nedigs nördlichstes Viertel hat bis auf ­nur wenige Ausnahmen nicht viel am Hut mit dem üblichen Glanz und ­Glamour. Hier besticht vielmehr der morbide Charme einst prachtvoller ­Paläste, an denen der Zahn der Zeit teils erheblich genagt hat. Hier überrascht eine ­geradezu kleinstädtisch-familiäre ­Atmosphäre, in der jeder ­jeden kennt. Hier fließt das ganz normale Leben ganz normaler Leute in ­geruhsamen Bahnen entlang schnur­gerader Kanäle.

Da treffen sich etwa jeden Morgen Giuseppe und Luca. Zwei aus dem Ei gepellte Rentner, die sich einen Schlag aus der Jugend erzählen. Da palavern Lucia und Renata lautstark über den Kanal hinweg. Da tragen liebevolle Menschen ihre asthmatischen Dackel über die Brücken. Da sitzt man bei­sammen wie in Familie und schaut dem geruhsamen Leben auf den Kanälen zu.

Das älteste jüdische Getto der Welt

Auf Cannaregios 33 einzelnen Inseln findet man immerhin 22 Kirchen und Klöster sowie etwa 100 Paläste. Mit der Ca d’Oro steht der berühmteste direkt am Canal Grande – seine gotische ­Fassade war einst komplett mit Blattgold überzogen. Zu den Schätzchen fernab der touristischen Pfade gehört der Palazzo Mastelli, viel bekannter unter seinem Spitz­namen Palazzo del Camello. Seine Fassade schmückt ein dekorati­ves ­Relief, das einen arabischen Händ­ler mit beladenem Kamel zeigt – ein ­deutlicher Hinweis auf die regen ­Handelbeziehungen der einstigen ­Besitzer mit dem Orient.

Gleich gegenüber steht eine der schönsten Kirchen der ganzen Stadt. Ma­donna dell’Orto ist von außen ein ­Zuckerbäcker-Schmuckstück und ­innen eine Schatzkammer. Das wiederum verdankt sie unter anderem dem bereits erwähntem Jacopo Tintoretto, der ganz in der Nähe wohnte, ­diese Kirche über alle Maßen liebte und hier auch begraben liegt. Allein ­seine monumentalen Meisterwerke „Jüngstes Gericht“ und „Die Anbetung des goldenen Kalbes“ sind den Besuch von Madonna dell’Orto mehr als wert. Ebenso obligatorisch in Canna­regio – das älteste jüdische Getto der Welt. 1516 mussten sich die vene­zianischen Juden per Dekret auf diese winzige Insel zurückziehen, die ­zwischen Sonnenuntergang und Morgengrauen abgesperrt wurde. Die ­Isolation der jüdischen Gemeinde ­dauerte bis 1797; dann übernahm ­Napoleon die Herrschaft und verfügte die Gleichstellung der Juden mit den anderen Bürgern der Stadt.

Die Enge des Gettos zwang die ­Juden zu babylonischem Turmbau. ­Sie errichteten sechs- bis siebenstöckige Wohnhäuser, wie man sie nirgendwo sonst in Venedig findet. Hinter schlichten Fassaden verbergen sich die fünf Synagogen des Viertels, die hier Scuola heißen und nur mit einem ­Führer des Jüdischen Museums ­besichtigt werden können.

Jungvolk und Studenten in den Bars entlang der Kanäle

Gäste aus aller Welt finden hier aber auch einen Ort wahrer Sinnes­freuden. Unmittelbar am Eingang zum Getto und direkt am Kanal von Cannaregio liegt das koschere Restaurant Gam Gam, das nicht nur bei ­jüdischen Touristen populär ist. Wer einmal erleben darf, wie im Gam Gam Juden verschiedener Länder eine ausgelassen-fröhliche Spontanparty feiern, wird das ebenso wenig vergessen wie die vorzügliche Küche und den liebenswürdigen Service der Restaurantcrew.

Bei Aldo geht es deutlich ruhiger zu. Punkt sieben schiebt er den eisernen Rollladen hoch und legt damit ­zugleich den Tresen seiner winzigen Bar frei. Dann setzt er sich auf sein Stühlchen am Kanal und rührt sich nur noch dann, wenn er ein Bier zapfen oder Cicchetti reichen muss. So heißen in Venedig die vielen hausgemachten Kleinigkeiten, die mit einer Ombra genossen werden, einem preiswerten Glas Wein.

Allmählich füllen sich dann die Stühle. Nicht nur bei Aldo, in allen Bars und Kneipen entlang der Kanäle ­tummeln sich Jungvolk und Studenten, Pärchen und Rentner, um im Zauberlicht der alles vergoldenden Abendsonne ein paar Gläschen zu heben – Markusplatz und Rialtobrücke sind in ­diesen Momenten der Glückseligkeit Lichtjahre entfernt.