Zingst. Der Strand auf der Ostsee-Halbinsel Darß ist für seine Bernstein-Funde bekannt. Kurz nach einem Sturm stehen die Chancen am besten.

Die Ostsee grollt. Kahle Bäume stehen schwarz vor dem tiefblauen Abendhimmel und biegen sich im Sturm. Die dichten Wolken sind aufgerissen, und Lichtfinger jagen über die See. Ein ­Regenbogen steht über dem Horizont. Der Abend kommt zu schnell, um ­dieses wilde Wetter draußen zu genießen. In der Nacht dröhnt der Sturm aus Nordost. Drückt das Wasser bis fast an die Dünen, fegt die Schaumkronen über den Strand, wirft Treibgut an Land. Das ist gut, sehr gut sogar. Denn am kommenden Morgen bin ich mit Martin Hagemann verabredet – er ist Naturführer und weiß, wo Bernstein zu finden ist. „Die besten Chancen hast du nach einem kräftigen Sturm aus Nordost“, erklärt er, „jetzt also!“ Es ist noch früh, und es ist zu hoffen, dass wir die ersten Wanderer am Strand auf dem Darß sind, der schmalen Halbinsel in der Ostsee.

Wir gehen hinunter zum Strand, am Spülsaum liegen Holz, Seegras, Muscheln; angeschwemmt in der vergangenen, stürmischen Nacht. Nach dem Sturm der vergangenen Tage ist eine sonderbare Stille eingekehrt. Wir sind die einzigen Wanderer am Strand weit und breit, obschon wir einer frischen Spur nach Westen folgen. Sind uns ­etwa Profis zuvorgekommen? „Die stehen wohl mit Keschern draußen im Wasser zum Bernsteinfischen“, sagt Martin.

Viele Steine sind kleiner als ein Fingernagel

„Bernstein findest du dort, wo das Holz, der Tang und die Muscheln liegen – er ist leicht und wird ebenso wie diese Stücke auf den Strand gespült“, erklärt Martin. Bekanntlich ist Bernstein kein Stein – unter idealen Umständen (Salzgehalt und Temperatur) kann er sogar im Wasser schwimmen –, sondern das fossile Harz längst untergegangener Wälder – vor Millionen Jahren versanken diese vornehmlich im Baltikum. „Dort liegen die ­großen Lagerstätten an Bernstein, vor allem bei Königsberg“, sagt er, „von dort kommt das allermeiste, was hier bei uns angespült wird!“

Lektion eins: deswegen Sturm aus Nordost abwarten. Lektion zwei: Suchen, wenn das Wasser kalt ist – dann schwimmt der Bernstein am ehesten auf und kann auf den Strand gespült werden. Lektion drei: an Orten suchen, in die der Sturm drückt.

Zahlreiche „Bernstein-Fischer“ machen mit Keschern Jagd auf die schwimmenden Steine, die meist nach einem Sturm angeschwemmt werden.
Zahlreiche „Bernstein-Fischer“ machen mit Keschern Jagd auf die schwimmenden Steine, die meist nach einem Sturm angeschwemmt werden. © picture-alliance / ZB | Bernd_Wüstneck

Bislang war meine Suche am Strand ergebnislos, so sehr ich den Blick am Boden behielt. Nun biegt die Küste im Bogen erst nach Nordwesten, dann nach Norden ab – und immer mehr Seegras liegt am Strand; einzelne Nester und Placken zuerst. Doch bald stapfen wir durch ganze Matten und Felder aus Seegras, die hier inzwischen knietief zwischen See und Dünen aufgeworfen wurden. Diese Bucht beschreibt eine geschwun­gene Linie, ist nach Nordost offen – „Die ideale Falle für Bernstein“, sagt Martin und gibt mir ein kleines Glasfläschchen. „Das ist für deine Fundstücke, hier findest du ganz sicher ­etwas“, meint er. Ein kleines Fläschchen? Hatte er nicht eben Bernsteine gezeigt groß wie Eier? Gefunden an Tagen und Orten wie diesen? „Stimmt schon, das sind Fundstücke aus der deutschen Ostsee“, erwidert er meinen etwas enttäuschten Blick. „Aber um solche Stücke zu finden, brauchst du schon sehr viel Glück, die meisten Bernsteine sind kleiner als dein Fingernagel. Trotzdem: Versuchen wir es, wer weiß, was wir heute finden – die Bedingungen jedenfalls sind ideal.“ Ich knie mich in das Seegras und vergesse bald alles um mich herum; Schatzsucher erliegen meist rasch einem schweren, sonderbaren Fieber. Besonders, wenn sie nah dran sind. Förmlich spüren, dass etwas wartet.

Manche Steine sind mehr wert als Gold

Müde hört man die Ostsee auf den Tang schwappen, und es klingt wie durch einen Filter, die gesamte Szene wirkt wie ein Schwarz-Weiß-Bild, bis das hier passiert: Ich rupfe das Zeug zum wiederholten Male auseinander, und da funkelt ein Stück golden zwischen dem dunklen Algenmansch. Nicht viel später klackern mehrere Bernsteinstückchen in der Flasche. „Na ­also“, sagt Martin, „hast du doch ein paar ge­funden.“ Auch wenn diese in Euro kaum etwas wert sind, so sind es doch die ersten, eigenen gefundenen Bernsteine. Finderglück und Sammlerstolz.

Um zu sehen, was Fachleute aus Bernstein – manche nennen es gar das „Gold der Ostsee“ machen –, fahre ich in das nahe gelegene Ribnitz-Damgarten; dort gibt es Bernsteine, die eine ganze Menge wert sind. Manche sogar mehr als das wahre Gold, nach dem sie bezeichnet werden. In dem Ort befindet sich eine Manufaktur, die aus Bernsteinen, auch in Kombination mit anderen Edelsteinen sowie Gold und Silber, erlesenen Schmuck herstellt – und dessen Ruf inzwischen bis nach ­China eilt.

Ich bin mit Eckhard Hinz verabredet, einem der beiden Geschäftsführer dieses Traditionsbetriebes. Ostsee-Schmuck heißt der Betrieb und aus Bernstein fertigen die Leute hier unter anderem Ketten und Armreifen in modernem Design. „Schmuck aus Bernstein hat längst nicht mehr das verstaubte Image, das ihm lange anhaftete“, sagt Hinz, „Bernstein ist nicht mehr nur allein etwas für die ­ältere Generation; ­inzwischen zählen wir zunehmend junge Frauen zu unseren Stammkunden.“ Es ist ein Naturprodukt und: Goldschmiede fertigen individuelle und charaktervolle Stücke. Man kann ihnen dabei zusehen; die „Gläserne Produktion“ ist längst eine touris­tische Attraktion.

Bernstein.Schmuck erlebt Renaissance

Die Mitarbeiter schleifen die Bernsteine in die passende Form, fassen sie mit Edelmetall. Eckhard Hinz ­begutachtet mit einem Kollegen ein paar der polierten und geheimnisvoll schimmernden Steine, sie beratschlagen, besprechen die Farbe, wie und zu was die Stücke ­optimal verarbeitet werden können. Wir verlassen die Schaumanufaktur, Eckhard Hinz führt in das Lager. Karton um Karton steht hier Bernstein, grob nach Größe und Farbe vorsortiert. „Unser gesamter Bestand stammt aus dem Baltikum“, erklärt er, „von dort kommt der beste Bernstein. Solche Mengen und Qualitäten können Sie hier nicht finden oder bekommen.“

Um die Vorräte, respektive die besten Qualitäten, im Baltikum wird inzwischen gerungen, Schmuck aus Bernstein erlebt eine Renaissance – der Preis für bestimmte Varietäten hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. In den Schaukästen im Geschäft liegen Schmuckstücke für mehrere Tausend Euro. Wer im Bernsteingeschäft bestehen will, braucht Kontakte, Nachschub und einen soliden Lagerbestand. Eckhard Hinz greift in eine der vielen Kisten, und eine Handvoll honigfarbener Bern­steine schimmert im Licht. Die wertvollsten Stücke allerdings liegen in Tresoren mit halbmeterdicken Türen; Stücke groß wie eine Faust und zumeist in der Farbe von Honig. Vorsichtig nimmt er einen davon in die Hand und begutachtet das Stück. ­Jeder einzelne Stein aus diesen Tresoren wird mit Lupe und Lampe genau untersucht, bevor er verarbeitet wird – so wie Diamantenschleifer den Rohstein vor dem Brechen und Schleifen analysieren, um das Beste heraus­zuholen. Hinz legt die Stücke wieder in den Tresor zurück, die zentnerschwere Tür gleitet geräuschlos zu.

Bernstein wird auch im Wellness-Bereich verwendet

Die Bernsteinreise ist noch nicht ganz zu Ende: Dort, wo die Halbinselkette Fischland-Darß-Zingst beginnt, liegt im Ostseebad Dierhagen das Strandhotel Dünenmeer. Ein beliebtes Hotel mit einem gut ausgebauten Wellness- und Spabereich. Für das Wohlbefinden wird dort auch Bernstein verwendet.

Der Blick reicht über die Dünen hinaus auf die Ostsee, der Wind hat wieder zugenommen und man meint, das Dröhnen der Brandung bis hierher zu hören. „Schoko­lade oder andere exotische Zutaten verwenden wir in den Angeboten des Spas im Strand­hotel Dünenmeer und im Schwesterhotel Strandhotel Fischland nicht – stattdessen nutzen wir Bernstein“, sagt Spamanagerin Ulrike Schmidt. Bei einem Peelingprodukt zum Beispiel, in dem neben ­Dünensand eben auch Bernsteinöl enthalten ist.

„Schon im Altertum wurden Bernstein heilende, schützende und regenerierende Eigenschaften nachgesagt“, erklärt Hoteldirektorin Isolde Heinz, „gemahlener Bernstein wird seit Jahrhunderten für die ­Gesunderhaltung geschätzt – zum Beispiel zur Linderung bei trockener Haut oder Schuppenflechte.“ Das Bernsteinritual „Dünengold“ entstammt übrigens einem alten überlieferten Hausrezept der Äbtissin Ursula von Mecklenburg, die im 16. Jahrhundert dem örtlichen Kloster in Ribnitz vorstand: altes Heilwissen (die Kräuterweiber in den Klöstern wussten ziemlich genau, was sie taten) und traditionelle ­Bäderkultur, dazu der Blick nach draußen – doch, das steigert Wohl­befinden.

Nach einem Tag draußen an der Ostsee – und dem Glück, einen Bernstein gefunden zu haben – sowie dem Staunen in der Schmuckmanufaktur tut der Aufenthalt im Wellness- und Spabereich abschließend gut. Ob nun mit oder ohne Bernsteinprodukt auf der Haut. Ich sitze vor den Panoramafenstern, der Abend geht in die Nacht über, und die Kiefern wiegen sich im Wind.

Wieder werden Schaumkronen auf der Ostsee tanzen, der Himmel ist tief und schwarz und schwer. Ein ­einsamer, letzter Wanderer kehrt heim zurück in die Geborgenheit. „Wir empfehlen einen ausgiebigen Spaziergang am Strand, ­immer wieder werden ­dabei Bernsteine gefunden“, verrät Spa-Chefin Ulrike Schmidt. Ganz genau. Und ich weiß jetzt auch wo!

Tipps & Information

• Anreise: Mit dem Pkw von Hamburg in rund drei Stunden über die A 20 bis zum Darß. Von Berlin aus über die A 19.

• Unterkunft: z. B. Strandhotel Dünenmeer, Dierhagen, DZ/HP ab 276 Euro, FeWo ab 132 Euro, www.strandhotel-ostsee.de

• Auskunft: www.ostseeferien.de, www.auf-nach-mv.de,
www.fischland-darss-zingst.de

(Die Reise wurde unterstützt vom Tourismusverband Fischland-Darß-Zingst, dem Verband Mecklenburgischer Ostseebäder und dem Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern.)