Kastelruth. Von Heusuppe bis Kräuterbrot: Der Natur-Reichtum wird auf der Seiser Alm in Südtirol genutzt und genossen. Ein Besuch in den Dolomiten.

„Die Natur ist ein Paradiesgarten“, weiß Walter Sattler. Hinter ihm erheben sich die Zacken von Schlern und Langkofelgruppe, zu seinen Füßen erstreckt sich eine blühende Almwiese. Hohes Gras bewegt sich im Wind. Hier verbergen sich die kleinen Wunder der großartigen Landschaft: lebendgebärender Knöllchen-Knöterich, der im Herbst fertige Pflänzchen abwirft; Klappertopf, dessen Samen klappern, wenn man darüberstreicht; und Schafgarbe, deren ätherisches Öl man riecht, wenn man ihre Blüten zwischen den Fingern reibt. Der Hotelier und Wanderführer Sattler sorgt dafür, dass Flachlandbewohner nicht nur eine bunte Wiese sehen, sondern Taubenkropf-Leimkraut mit zarten, weiß-rosa-farbenen Blüten, Frauenmantel, Wiesenknopf und Knabenkraut unterscheiden.

Wie die meisten Gastwirte auf der Seiser Alm stammt Walter Sattler aus der Landwirtschaft. In Kastelruth geboren, ist er seit 1975 auf der Alm zu Hause, wo er und seine Frau Irmgard das auf 1910 Metern gelegene Hotel Icaro von ihren Eltern übernahmen. Im Jahr zuvor war der westliche Teil der Alm als Naturpark Schlern unter Schutz gestellt worden; später kam noch ein Teil des Rosengarten-Gebiets hinzu und bescherte dem Park einen Doppelnamen. Neubauten sind hier nicht mehr möglich, heute ist die Alm sogar verkehrsberuhigt.

Übernachtungsgäste dürfen ihre Autos nur zur An- und Abreise sowie abends nutzen, Tagesbesucher sollen Bus oder Gondelbahn nehmen.Was auf der Wiese blüht, kommt in der Gostner Schwaige auf den Teller

Mit über 50 Quadratkilometern ist die Seiser Alm eine der größten in Europa. Nur 162 Menschen leben ganzjährig in der in bis zu 2000 Metern Höhe gelegenen Hügellandschaft; eine Handvoll von ihnen sind Bauern mit Viehwirtschaft, die meisten Gastwirte. 2000 Gästebetten, 60 Kilometer Langlaufloipen und ebenso viele Kilometer Abfahrtpisten zeugen von der touristischen Bedeutung der Alm. Eine Million Menschen besuchen sie jedes Jahr. Trotzdem ist Abgeschiedenheit prägend für das Leben hier oben geblieben. Alles Lebenswichtige befindet sich im Tal, einzig Bergrettung und Pistendienst sind notfalls schnell zur Stelle.

Was auf der Wiese blüht, wird in der Gostner Schwaige auf Tellern hübsch drapiert und mit Schinken und Almkäse als Brotzeit serviert. Inhaber und Küchenchef Franz Mulser empfiehlt Wanderern zur Stärkung einen Salat aus 25 Blüten, darunter Dahlie, Gewürztagetes, Stiefmütterchen, Kapuzinerkresse, Geranie, Malve und süße Stevia. Dazu gibt es Brot mit 15 verschiedenen Kräutern. Ein hochalpines Geschmackserlebnis verspricht zudem das Zirbelkieferpesto auf Butter, das aus den Frühtrieben der Kiefer und den Nüssen ihrer Zapfen hergestellt wird.

Die Idee, mit den Produkten der Natur zu kochen, hat Mulser sehr konsequent zu Ende gedacht. Wer abends bei ihm einkehrt, kann ganze Menüs mit Blumen und Kräutern bestellen. Etwa die berühmte Heusuppe aus 25 verschiedenen Wildkräutern, Tafelspitzsülze vom Milchkalb mit Blumensalat und zum Abschluss karamellisierten Kaiserschmarrn mit Marillen – und roten Rosen. „Die Kräuter für die Suppe sammeln wir auf der eingezäunten Wiese, da drüben, hinter den Fichten“, erzählt Mulser. Sorgsam kontrolliert er, dass sich dort kein hochgiftiger Eisenhut einschleicht. Alle Gerichte hat er selbst kreiert.

Noch in den 70er-Jahren gab es in der Gegend viele Getreidemühlen

Der 1979 in Seis am Schlern geborene Mulser absolvierte ein Ausbildung zum Koch und Käser in Kastelruth, bevor er in Österreich, im Münchener Restaurant Tantris und auf Mallorca in hochdekorierten Küchen am Herd stand. Immer aber träumte er vom eigenen Restaurant. 2001 ließ er die Sternegastronomie hinter sich, baute die auf 1930 Meter gelegene Almhütte um und mutete seinen Gästen fortan in der Gostner Schwaige eine Hüttenwirtschaft ohne traditionelle Hüttengerichte zu. „Viele wollten es nicht akzeptieren. Manche waren misstrauisch, andere lächelten. Aber heute sind wir froh, dass wir es anders machen als andere“, meint der Küchenchef.

Die Krea­tivität der Menschen auf der Alm erschöpfen sich nicht in der Darbietung von Volksmusik, wiewohl in Kastelruth, dem Städtchen mit 6600 Einwohnern, zu dessen Gemeindegebiet auch die Seiser Alm zählt, noch immer die prominenten Spatzen beheimatet sind. Noch in den 70er-Jahren gab es rund um Kastelruth ein Dutzend Getreidemühlen. „Früher hat man im Tal Getreide angebaut, Heu wurde auf der Alm gemacht“, erinnert sich Max Plunger. „Heute wird auch im Tal Heu gemacht. Getreide gibt es hier unten nicht mehr, und die Almen wachsen zu und verlieren an Wert.“ Plunger baut auf seinem Land alte Getreidesorten an und mahlt Roggen, Weizen und Buchweizen in seiner Mühle, die bereits seit 1525 am Frötschbach in St. Vigil zwischen saftigen Wiesen steht. „Die alten Sorten sind häufig nicht für den Mähdrescher geeignet, aber ich will das alte Saatgut nicht verlieren“, sagt Plunger.

Es ist auch mühsam: Roggen und Buchweizen müssen von Hand geschnitten werden. Doch wenn Plunger die Leinenschürze seines Großvaters überzieht und die uralte Holzkonstruktion aus Zahnrädern, Federn und Bolzen sich knirschend in Bewegung setzt, machen Wanderer Umwege, um das Schauspiel mitzuerleben. Über eine Holzrinne erreicht das Wasser des Bachs das Mühlrad und setzt es in Bewegung. Zwei gewaltige Mühlsteine verarbeiten das Getreide zu Mehl, das etwas dunkler ist als das aus den weißen Papiertüten im Supermarkt. „Und gesünder“, fügt Plunger hinzu.

20- bis 30-mal im Jahr mahlt er, so vorsichtig wie möglich, um das Mühlrad aus Lärchenholz zu schonen. Zwar gibt es in Brixen noch einen Schreiner, der Mühlen und Räder baut. Doch Ersatzteile sind teuer, und Plunger stellt Mehl nur für den eigenen Bedarf her. Er freut sich, wenn er sieht, wie alte Mühlen in der Gegend nach 30 Jahren Stillstand wieder angeworfen werden. „Die haben alle zugemacht, weil es nicht mehr rentabel war“, sagt er. Doch langsam begriffen die Menschen, dass es sich lohne, ­altes Kulturgut zu erhalten. „Unsere Mühle ist immer gelaufen, über 400 Jahre lang. Meine Seele würde mir nicht ­erlauben, aufzuhören“, erklärt Plunger seine Motivation.

800 verschiedene Pflanzen wachsen im Garten vom Pflegerhof

Im Nachbarsprengel St. Oswald kam Martha Mulser auf der Flucht vor dem Alltag zum naturnahen Pflanzenbau. Mit gerade 20 Jahren war sie zu Mann und Schwiegereltern auf den Pflegerhof gezogen. Im fami­liären Getümmel wurde ihr klar: Sie brauchte einen Ort für sich allein. „Mein kleiner Kräutergarten wurde mein Refugium.“ 1982 legte sie ihn an am Hang hinterm Haus an, ein kleines Stück auf 800 Meter Höhe, gleich unterhalb der alten Burgruine.

800 verschiedene Heilpflanzen und Kräuter wachsen hier, darunter allein 50 Salbei-, 40 Minze- und 20 Basilikumsorten. In dem kurzen Alpensommer bilden sie alle eine üp­pige, duftende Blütenflut. Das berü­ckende Stück Berghang, das als ihr ­Hobby begann, ist heute ein preisgekrönter, 20.000 Quadratmeter großer Biogarten und eines der liebsten Aushängeschilder Südtirols. Schon als Kind war die heute 57-Jährige am liebsten im Garten. „Da wuchs alles, was auf dieser Höhe gedeiht.“ Großmutter und Vater gaben ihr Kräuterwissen an sie weiter. Als Martha Mulser ihren eigenen Garten anlegte, hatte sie die Vision eines Stücks Natur voller Mischkulturen. Das bedeutet mehr Arbeit bei der Ernte, wenn man von Reihe zu Reihe springen muss, hat aber auch Vorteile: wenig Krankheiten und Schädlinge.

1985 begann sie, Heilkräuter und Tees auf Bauernmärkten zu verkaufen, bald darauf gehörte Martha Musler zu den Gründungsmitgliedern des Bundes ­alternativer Anbauer, die sich zum ­ökologischen Obst- und Gemüsebau verpflichteten. Als ihr Mann 1994 viel zu früh starb, erwies sich der Garten für die Witwe als Segen: Er bot Ablenkung, Trauerbewältigung und Existenzsicherung zugleich.

• Tipps & Informationen

• Anreise: z. B. mit dem Auto über München und den Brenner bis Klausen; von dort über Waidbruck und Kastelruth bis auf die Seiser Alm. Wer dort nächtigt, erhält gegen Vorlage der Reservierung bei der Forstbehörde in St. Valentin die Genehmigung, auf die Seiser Alm zu fahren, die von 9 bis 17 Uhr für Privatautos gesperrt ist.

• Übernachten: z. B. Hotel Icaro, 22 Zimmer, Pool, sehr gute Küche, DZ/HP ab 110 Euro p. P. , www.hotelicaro.com.

• Restaurants: Kräuterreich isst man bei Franz Mulser in der Gostner Schwaige. Zu erreichen über Fußweg Nummer drei vom Hoteldorf Compatsch.

• Kräuter: Martha Mulsers Hofladen in St. Oswald, www.pflegerhof.com

Wenn der Müller Zeit hat, führt er vor, wie die Mühle funktioniert.(Die Reise erfolgte mit Unterstützung des Hotels Icaro.)