Berlin. Vom Daddelspaß zum Kulturgut: Spieleentwickler öffnen sich zunehmend neuen Themen. Wissenschaftler sehen die Branche am Wendepunkt.

Videospiele sind ein Massenphänomen: Über 34 Millionen Deutsche zockten im vergangenen Jahr auf PC, Konsolen und Smartphone, wie eine Untersuchung des Marktforschungsunternehmens GfK ergab. Der Markt der Unterhaltungsspiele ist gigantisch: Weltweit setzten Hersteller im vergangenen Jahr rund 100 Milliarden US-Dollar um – fast das Dreifache der Filmindustrie, die im selben Zeitraum weltweit 38,6 Milliarden US-Dollar umsetzen konnte.

Und während James Camerons Science-Fiction-Spektakel „Avatar“ mit dem Einspielergebnis von 2,8 Milliarden Dollar mit Abstand als erfolgreichster Film aller Zeiten gilt, würde er bei Videospielen nicht mal unter die Top 10 kommen. Spitzenreiter „World of Warcraft“ kratzt Schätzungen zufolge aktuell an der Marke von zehn Milliarden Dollar.

Videospiele gelten als Schmuddelkinder

Trotzdem haben Videospiele ein Image-Problem. Während Bildschirmmedien wie Film und Serie längst als Kunstform anerkannt sind und Brettspiele per se als pädagogisch wertvoll gelten, haftet Games ein Makel an. In der öffentlichen Wahrnehmung gelten sie vielfach als Beschäftigung sozial isolierter Nerds. Dass sie eine angemessene, ja sogar sinnvolle Beschäftigung sein könnten – ausgeschlossen.

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Eine offensichtliche Ursache dieser allgemeinen Wahrnehmung von Videospielen sei Ahnungslosigkeit, sagte Linda Breitlauch, Professorin für Game Design an der Hochschule Trier auf der „Fachkonferenz zur gesellschaftlichen Dimension von Video- und Computerspielen“, die vor Kurzem in Berlin stattfand. Kaum jemand wisse, was sich im Schatten großer Blockbuster-Titel wie der Actionspielreihe „Call of Duty“ oder den „Fifa“-Fußballspielen tue.

„Serious Games“ zielen auf einen Lerneffekt ab

Typisches Beispiel seien die sogenannten Serious Games – Spiele also, die etwa auf einen Lerneffekt abzielen, jenseits bloßer Unterhaltung. Diese aber seien oftmals auf sehr spezielle Zielgruppen zugeschnitten und erreichten den typischen Gamer nur in Ausnahmefällen. Doch auch Spiele, die man eigentlich der reinen Unterhaltung zuordnen würde, werden zunehmend sinnvoll zweckentfremdet.

Dieser Effekt ist deutlich bei „Minecraft“ zu beobachten: Im Klötzchenwelt-Spiel lassen sich nicht nur allerlei Bauwerke nachbilden, Spieler können damit komplexe Gebilde, bis hin zum virtuell begehbaren und funktionsfähigen Computer konstruieren. Rund um den Globus hat das Spiel deshalb seinen Weg in die Klassenzimmer gefunden.

Der Spielemarkt ist vielfältiger als gemeinhin bekannt

Kunsthistoriker und Medienwissenschaftler Stephan Schwingeler sieht darin eine normale Entwicklung. Er ist Professor für Game Design an der Media Akademie Hochschule Stuttgart und hat täglich mit Fragen zur gesellschaftlichen Dimension von Videospielen zu tun: „Wir sehen zunehmend, dass Spiele, die eigentlich abseits vom Serious-Games-Diskurs stehen, dennoch diese Ideen transportierten und sich zu eigen machen.“

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Ein gutes Beispiel dafür sei das Spiel „Papers, please“. Darin übernimmt der Spieler die Rolle eines Grenzbeamten des fiktiven Staats Arstotzka und muss entscheiden, wen er einreisen lässt – und wen er an der Grenze abweist. Vorschriften, Zeitvorgaben und die Gefahr terroristischer Anschläge stellen den Spieler ständig vor schwere Entscheidungen. „Das ist kein Lernspiel, um auf die Grenzthematik hinzuweisen. Das ist in erster Linie eine künstlerische Arbeit – die auf einer Metaebene auch Aussagen über unseren gesellschaftlichen Status quo trifft.“

Kriegsspiele müssen nicht immer Machtfantasien bedienen

Eines der bekanntesten jüngeren Beispiele für diese Transformation ist „This War of Mine“. Hier muss der Spieler das Überleben einer kleinen Gruppe von Zivilisten in einer belagerten Stadt sichern. Stetiger Hunger, Plünderer, Krankheiten und der einbrechende Winter sind nur die unmittelbaren Gefahren. In ihren Tagebüchern geben die Figuren all das wieder, erlauben Einblicke in ihre früheren Leben und auch in ihre emotionalen Wunden.

Einer der Entwickler, Wojcek Setlak, erläutert die Idee, die dahintersteckt: „Üblicherweise sind Kriegsspiele fast immer Machtfantasien. Sie erzählen die Geschichte von einem Mann mit einer Waffe. Zivilisten sind im besten Fall Requisite, wenn sie überhaupt vorkommen. Doch gerade im modernen Krieg sind sie es, die den hohen Preis zahlen – ohne einen Einfluss auf den Krieg zu haben.“ Von diesen Menschen handelt „This War of Mine“.

Die neue Qualität ist, dass Spieler als Akteure teilhaben

Inspiriert von Berichten aus dem belagerten Sarajevo und von Überlebenden aus dem Warschauer Getto habe das Team versucht, die katastrophale Situation von Zivilisten im Krieg nachzubilden. Was nach einer trockenen Unterrichtseinheit klingt, entpuppte sich als Hit in der Spielergemeinde – gerade weil es die Thematik ernst nimmt. Um die Texte und Dialoge im Spiel möglichst authentisch zu halten, habe Setlak die einfache, nüchterne Sprache der Überlebenden nachempfunden. „Sprache ist oft aber nicht in der Lage, die schwere emotionale Last der Menschen wirklich zu vermitteln“. Deshalb habe sich das Team entschieden, die Spieler als handelnde Akteure teilhaben zu lassen, statt ihnen nur Text zum Lesen vorzusetzen.

„Die neue Qualität von Computerspielen ist, dass man mit ihnen agiert. Der Spieler bekommt das Gefühl, dass seine Handlungen innerhalb der Spielwelt und ihren Regeln eine Bedeutung hat – und dieses Gefühl kann er auf seine eigenen Handlungen rückbeziehen“, sagt Schwingeler. Denn bei allen Parallelen der immer realistischer aussehenden Spiele zum Medium Film – hier bestehe ein wesentlicher Unterschied: „Das ist ein mächtiger Wirkmechanismus, den man sich in Spielen zunutze machen kann – für Aufklärung, Aktivismus oder im schlimmsten Fall auch für perfide Propaganda“.

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Der Deutsche Computerspielpreis ging an „Orwell“

Ein weiteres Spiel, das dieses Vermögen veranschaulicht, ist „Orwell“. Der Titel des kleinen Hamburger Entwicklerstudios Osmotic sorgte im vergangenen Jahr weltweit für Aufmerksamkeit, behandelt es doch ein ebenso aktuelles wie hochpolitisches Thema: Überwachung im digitalen Zeitalter.

Ein Bildungsauftrag stand bei der Entstehung aber nicht im Vordergrund, wie Mitgründerin Melanie Taylor sagt: „Wir haben uns interessanterweise nie wirklich als Serious Game gesehen – obwohl wir jetzt den Deutschen Computerspielpreis als bestes Serious Game gewonnen haben. Uns war in erster Linie wichtig, Fragen über die Gesellschaft zu stellen und den Spieler zum Nachdenken zu bringen. Aber wir wollten eben nicht die Moralkeule schwingen und dem Spieler sagen, was er zu denken hat. Wir wollten, dass der Spieler sich selbst Gedanken über dieses Thema macht, über das Preisgeben der eigenen Daten im Netz.“ Und hier erreicht „Orwell“ spielerisch bei Nutzern mehr als alle pädagogischen Aufklärungskampagnen.

Die Grenzen zwischen Kunst und Spiel verwischen

Schwingeler sieht das Medium an einem Wendepunkt: „Videospiele öffnen sich – einerseits für Themen mit gesellschaftlicher Relevanz und andererseits auch für künstlerische Prozesse.“ Kleine, unabhängige Entwickler setzen häufig etwa ganz bewusst auf eine pixelige Videospielästhetik, viele dieser sogenannten Indie-Games verwischen dabei die Grenze zwischen Kunst und Spiel.

Und auch wenn es natürlich noch immer stumpfe Ballerspiele gibt, finden sich in den zahlreichen Nischen vermehrt Titel, die schlicht mehr sein wollen als ein unbedeutender Zeitvertreib. Oder wie Wojcek Setlak es in seinem Vortrag beschreibt: „Vor hundert Jahren galt Film als geistlose Unterhaltung – schauen Sie, wie weit wir hier gekommen sind. Filme sind erwachsen geworden – und wir glauben, Spiele sind das mittlerweile auch.“