Berlin. Medikamente können Suchtkranken helfen, abstinent zu bleiben. Wie die Mittel wirken und warum selbst Ärzte so wenig über sie wissen.

Sie rauschen beim Sex durch den Körper, beim Küssen, beim Essen von Schokolade – Endorphine sind vom Körper selbst produzierte Opioide, die Schmerz unterdrücken und ein euphorisches Stimmungshoch hervorrufen können. Auch Alkohol führt im Gehirn zur Ausschüttung der Botenstoffe, wie US-Forscher im Jahr 2012 nachwiesen.

Für einige wirkt das künstlich erzeugte Glücksgefühl unwiderstehlich. Sie führen es so oft herbei, dass sie sich bei normalem Endorphin-Level schlecht fühlen. Über drei Millionen Deutsche sind laut dem Jahrbuch Sucht 2016 der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen von „einer alkoholbezogenen Störung“ betroffen, 1,77 Millionen davon abhängig. Nur wenige schaffen es aus eigener Kraft, den Alkohol aufzugeben. Dass es neben psychologischer Unterstützung auch Medikamente gibt, die diesen Prozess fördern können, wissen viele nicht.

Fünf Wirkstoffe gegen die Versuchung

Eines der ältesten Mittel zur Abstinenzunterstützung ist Disulfiram. Es wurde 1948 erstmals zugelassen und in Deutschland unter dem Namen Antabus verkauft. Das Mittel wird injiziert und hemmt ein Enzym, das giftige Stoffwechselprodukte von Alkohol im Körper abbaut. Bei Patienten, die dennoch zum Glas greifen, reichert sich der giftige Stoff an und führt zu Übelkeit, Schwitzen oder Herzrasen. Kurz: „Wenn die Patienten etwas trinken, wird ihnen schlecht“, erklärt Professor Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Charité in Berlin.

„Es ist eine vergleichsweise riskante Therapie, die kaum noch angewendet wird“, so Heinz. Der deutsche Hersteller ließ die Zulassung für Antabus im Jahr 2013 aus wirtschaftlichen Gründen auslaufen. Auf einer anderen Ebene wirkt der Stoff Naltrexon – ein sogenannter kompetitiver Antagonist, der als Tablette eingenommen wird. Er konkurriert mit den bei Alkoholkonsum ausgeschütteten Endorphinen um in Gehirn und Rückenmark sitzende Bindungsstellen – die Opioidrezeptoren.

Ausschüttung von Dopamin

„Alkohol verstärkt möglicherweise die Wirkung der an den Rezeptor andockenden Endorphine“, erklärt Professor Ulrich Preuss, Facharzt für Suchtmedizin und Klinikdirektor der Vitos Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie Herborn. Es fördert unter anderem die Ausschüttung des motivierend wirkenden Botenstoffs Dopamin. Dockt stattdessen Naltrexon an den Rezeptor an, bleibt die angenehme Wirkung aus. „Ein Patient hat es einmal so erklärt: ‚Wenn ich eine Tablette einnehme, schmeckt das erste Bier nicht mehr so gut‘“, sagt Suchtmediziner Heinz.

Das Mittel komme für Patienten infrage, die überhaupt keinen Alkohol mehr trinken wollen. Die Tablette müsste dann eingenommen werden, wenn die Patienten das Gefühl hätten, anfällig für das Trinken zu sein, und die Behandlung „immer in Kombination mit einer psychologischen Therapie erfolgen“, ergänzt Preuss. Laut einer Studienauswertung des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mindert der Wirkstoff das Verlangen nach Alkohol etwas stärker als ein Scheinmedikament, jeder Fünfte mit Naltrexon Behandelte fing nach dem Entzug nicht wieder mit dem Trinken an.

Medikament Selincro kaum verkauft

Ähnlich wie Naltrexon wirkt der Wirkstoff Nalmefen, der erst 2013 in Deutschland für Personen mit leichter Alkoholabhängigkeit zugelassen wurde. Also „nur für solche, die keine körperlichen Entzugserscheinungen haben“, so Preuss. Das in Deutschland erhältliche Medikament Selincro würde deshalb kaum verkauft. „Diese Patienten werden in der Regel nicht in einer Klinik behandelt, sondern wenden sich zum Beispiel an ihren Hausarzt“, sagt Preuss. Bisher hätten aber noch zu wenige Hausärzte eine suchtmedizinische Zusatzqualifikation, Berührungsängste mit Alkoholpatienten oder würden die Medikamente schlicht nicht kennen.

Der Wirkstoff Acamprosat wurde 1995 in Deutschland zugelassen. Im Gehirn von Alkoholabhängigen hatten Forscher eine hohe Konzentration der erregend wirkenden Glutaminsäure festgestellt – auch Glutamat genannt. Der Stoff und seine Salze sind als Lebensmittelzusatz zugelassen, der menschliche Körper kann Glutaminsäure aber auch selbst herstellen. Im Gehirn spielt sie eine wesentliche Rolle als Botenstoff.

Reiz zu trinken wird gesenkt

„Man ging lange davon aus, dass Acamprosat die Rezeptoren im Gehirn blockiert, an denen Glutamat sonst andockt. Die Wirkung des Alkohols sollte so entfallen und den Reiz zu trinken senken“, erklärt Preuss. Aber „mittlerweile hat man festgestellt, dass das Medikament doch anders wirkt, wie genau, ist noch unklar“, sagt Psychiater Andreas Heinz. Eine Übersichtsstudie hatte auch für Acamprosat bessere Erfolgschancen gezeigt als für ein Placebo – „etwa 20 von 100 Probanden, und damit doppelt so viele Patienten, blieben trocken“, sagt Heinz.

Er selbst testete mit Kollegen an der Charité den Wirkstoff Baclofen, der bislang nur als Muskelentspanner zugelassen ist. Auch Baclofen soll die vermehrte Ausschüttung von Dopamin bei Alkoholkonsum hemmen. 2009 wurde der Stoff in einem Buch des französischen Herzspezialisten Olivier Ameisen als Wundermittel beschrieben. Er war selbst abhängig und beschrieb in „Das Ende meiner Sucht“, wie er sich mit einer sehr hohen Dosis von 270 Milligramm Baclofen am Tag selbst kurierte.

Behandlung von Spastiken

Zur Behandlung von Spastiken setzen Ärzte üblicherweise höchstens 75 Milligramm pro Tag ein. In Frankreich ist ein abstinenzunterstützendes Mittel mit dem Stoff zugelassen, in Deutschland bislang nicht. „In unserer Studie hat Baclofen bei zwei von zehn Probanden gewirkt. Ein Problem sehen wir darin, dass der Stoff nicht gut ins Gehirn geht“, erklärt Heinz.

Suchtmediziner Preuss, der die Studie seiner Berliner Kollegen als gelungen bewertet, hält die Zukunft von Baclofen in Deutschland für ungewiss: „Es ist noch völlig unklar, für welche Patienten das Mittel sich genau eignet“.

Experten fordern breiteren Einsatz der Mittel

Generell „verschreiben Ärzte Medikamente zur Aufrechterhaltung der Abstinenz kaum, dabei können sie auch die Teilnahme an Psychotherapie und Selbsthilfegruppen unterstützen“, sagt Heinz. „Es stimmt, dass die bislang bekannten Wirkstoffe nicht jedem helfen und unerwünschte Nebenwirkungen haben können. Aber bei einigen kann es ein Baustein der Therapie sein“, sagt er.

Statt den Patienten frühzeitig etwa mit Medikamenten dabei zu helfen, ihren Konsum zu senken, würden Patienten oft zum nächsten Arzt geschickt, sagt der Suchtmediziner Prof. Ulrich Preuss: „Kaum eine Erkrankung ist so stigmatisiert, die Patienten gelten als unzuverlässig und werden meist erst behandelt, wenn die Sucht weit fortgeschritten ist.“

Bessere Koordination gefordert

Auch das Gesundheitssystem habe seinen Anteil daran. „Kliniken machen den Entzug, die Rehabilitation übernehmen oft Sozialarbeiter oder Psychotherapeuten, die nicht mit Medikamenten arbeiten. Die Suchthilfe entscheidet oftmals anders als ein Suchtmediziner es tun würde. Würde die Behandlung gemeinsam koordiniert, könnte sie besser funktionieren“, meint Preuss.

Die Medikamente zur Rückfallprophylaxe verdienten einen breiteren Einsatz, sind sich die Experten einig. „Sucht ist keine Charakterschwäche sondern eine Krankheit“, ergänzt Heinz, „die Patienten haben eine Behandlung verdient wie andere Kranke auch.“