Berlin. Was geht in einem Menschen vor, der sein ganzes Leben auf Unwahrheiten aufgebaut hat? Wie lebt er damit? Ein Psychiater gibt Einblicke.

Irgendwann hielt Petra Hinz dem medialen Druck nicht länger stand. Die SPD-Politikerin bestätigte die kursierenden Gerüchte und ließ über ihren Anwalt wissen: Ja, mein berufliches Leben baut auf einer Lüge auf. Über Jahrzehnte hatte sie angegeben, Juristin zu sein, das zweite Staatsexamen zu besitzen. Am Ende konnte die Bundestagsabgeordnete nicht einmal ein bestandenes Abitur vorweisen.

Eine Lebenslüge zur Begünstigung ihrer beruflichen Laufbahn, eine Lüge, von der niemand gewusst haben will. Petra Hinz hatte offensichtlich alle getäuscht, ihr engstes Umfeld eingeschlossen. Doch – wie lebt ein Mensch mit einer Lüge, die solch eine Tragweite hat, über Jahre hinweg? Und warum macht er das?

Viele glauben ihre Lügen irgendwann selbst

„Es gibt verschiedene Varianten“, sagt der Psychiater Dr. Stefan Röpke, Leiter des Bereichs Persönlichkeitsstörung der Berliner Charité. Manche hätten die Lüge täglich präsent und lebten in ständiger Angst, dass sie auffliegen könnten. Für andere könne sie auch zur eigenen Wahrheit werden, der Mensch glaube am Ende selbst an das Lügenkonstrukt.

„Was ich aber in der Klinik am häufigsten sehe, ist Verdrängung.“ Der Mensch sei gut darin, Dinge auszublenden, um nicht täglich daran denken zu müssen. Röpke: „Die Leute wachen nicht jeden Morgen damit auf. Sie erinnern sich nur an die Lüge, wenn sie ihren Lebenslauf irgendwo vorlegen müssen oder bei einem gefälschten Doktortitel das Kürzel vor ihren Namen schreiben.“

Durchschnittlich 200 Lügen am Tag

Ganz allgemein gehöre das Lügen zum Menschsein dazu – egal ob bei Erwachsenen oder Kindern. „Wir lügen täglich“, sagt Stefan Röpke. „Kleine Notlügen, warum wir zu spät kommen. Oder die Antwort ,gut‘ auf die Frage ,Wie geht’s?‘, auch wenn es uns schlecht geht.“ Der Psychologe Jürgen Hesse, der gemeinsam mit Hans Christian Schrader zahlreiche Bewerbungsratgeber veröffentlicht hat, pflichtet dem Psychiater bei: „Wir lügen im Schnitt 200-mal am Tag“, sagt er.

Bei Lebensläufen seien Lügen schlichtweg an der Tagesordnung. „In den letzten zehn bis 15 Jahren hat eine Inflation stattgefunden“, glaubt Hesse. „Jeder Mittelständler stellt sich als Global Player dar. Und jeder sucht die perfekten Mitarbeiter für seine Firma.“ Dass sich auch Bewerber bestmöglich darstellen wollen und müssen, sei da verständlich. „Auf dem Markt der Eitelkeiten gehört das zum Spiel dazu.“

Notlügen sind manchmal legitim

Es ginge dabei aber oft eher um Übertreibungen. „Da wird dann aus guten Englischkenntnissen verhandlungssicheres Englisch“, sagt Hesse. An manchen Stellen sieht Hesse „Notlügen“ als völlig legitim an: „Wenn zum Beispiel eine Frau für ein Jahr aufgrund einer Brustkrebsbehandlung aus ihrem Job raus war, geht der Grund für die Auszeit keinen zukünftigen Arbeitgeber etwas an.“

Der Arbeitgeber könne sonst daraus schließen, dass die Bewerberin nach der Krankheit weniger belastbar ist, oder Bedenken haben, dass der Krebs zurückkommt. „Dann kann man besser behaupten, man hat seine kranke Mutter gepflegt.“ Der Fall Petra Hinz sei natürlich von einem ganz anderen Ausmaß und nicht zu entschuldigen.

Nicht jeder ist als Lügner geeignet

Aber auch größere Lügenkonstrukte wie das der ehemaligen Bundestagsabgeordneten gibt es immer wieder. Die Rennradfahrer Lance Armstrong und Jan Ullrich beteuerten über Jahre, sie seien sauber. Nur zwei Beispiele von Sportlern, die am Ende zugeben mussten, im großen Stil gedopt und betrogen zu haben. Fußballtrainer Christoph Daum sah seinerzeit mit festem Blick in die Kamera und schwor, nie Kokain genommen zu haben. Ein Haartest belegte das Gegenteil. Ehen gehen in die Brüche, weil einer der Ehepartner eine Affäre beginnt und nach Monaten oder Jahren des Lügens und des Doppellebens die Wahrheit ans Licht kommt.

„Grundsätzlich gehen solche Fälle durch alle sozialen Schichten“, sagt Psychiater Stefan Röpke. Dass sich aber jeder Mensch ein Lügenkonstrukt aufbauen und aufrechterhalten kann, bezweifelt der Arzt. „Man muss die Folgen abschätzen können. Je schlimmer die Konsequenzen sind, sobald die Lüge auffliegt, desto höher ist der Druck, sie aufrechtzuerhalten.“ Petra Hinz flog am Ende wegen anonymer Hinweise an die Presse auf. Wer weiß, ob es sonst jemals aufgedeckt worden wäre?

Fall Petra Hinz gibt Rätsel auf

Dass dies über Jahrzehnte nicht passierte, fasziniert Christa Stienen. Die Vizepräsidentin des Bundesverbands für Personalmanager (BPM) weiß, dass Bewerber hier und da Dinge beschönigen. Auch bei krankheitsbedingten Ausfällen freut sie sich zwar über Offenheit, versteht aber jeden, der die Krankheit verschweigt. „Allgemein finde ich es aber am besten, wenn Bewerber mit Lücken im Lebenslauf offensiv umgehen“, sagt Stienen.

Einen Fall wie der von Petra Hinz kann sie sich in der freien Wirtschaft jedoch kaum vorstellen. „Wir überprüfen die Angaben, indem wir uns beispielsweise Referenzen bei vorherigen Arbeitgebern besorgen.“ Christa Stienen kann nicht verstehen, dass in der politischen Karriere von Petra Hinz an keiner Stelle genauer hingesehen wurde. „Wieso fiel es nie auf?“

Lügner halten ihr Umfeld auf Distanz

„Risse in der Geschichte entstehen oftmals bei Unterhaltungen, die Widersprüche offenbaren“, sagt Stefan Röpke. „Die Menschen versuchen aber, den für sie unangenehmen Themen zu entgehen. Eine Art ist, das Umfeld auf Distanz zu halten. Leute durch aggressives Verhalten wegzustoßen.“ Bei Petra Hinz gingen der Offenbarung der Lebenslüge schwere Mobbingvorwürfe aus ihrem Berliner Büro voraus.

Fliegen die Lügen auf, haben laut Röpke die Fälle, die ihm bekannt sind oder bei denen er als Psychiater involviert war, eines gemein: „Niemand leugnet, gelogen zu haben. Die Leute versuchen, sich zu erklären. Manche sind auch erleichtert. Die meisten Menschen haben ein emotionales Hemmnis, andere anzulügen, fechten einen inneren Konflikt aus.“

Auch Persönlichkeitsstörung als Ursache

Menschen, die wirklich überzeugt sind, dass Unwahrheiten real sind, seien hingegen krank, sagt Röpke. „Das muss man klar abgrenzen. Dabei handelt es sich dann um Wahnvorstellungen. Die Kranken haben null Bewusstsein für Unwahres.“ Das bewusste Lügen sei hingegen bei bestimmten Persönlichkeitsstörungen häufig. „Bei der Borderline-Persönlichkeitsstörung werden Todes- oder Krankheitsfälle von Angehörigen erfunden, um Aufmerksamkeit zu erlangen“, erklärt der Arzt. Bei einer narzisstischen Störung würden die Leute erzählen, dass sie eine Berühmtheit kennen oder Dinge erfinden, die sie erreicht hätten. „Dann gibt es noch die antisozialen Persönlichkeitsstörungen: Psychopaten, die ohne Skrupel und Scheu lügen können.“

Petra Hinz würde Röpke jedoch keiner dieser Gruppen zuordnen. Auch wenn er den Fall nur aus der Ferne kennt. „Das Muster ist hier so wie bei gefälschten oder erfundenen Doktortiteln. Da geht es darum, seine beruflichen Chancen zu verbessern.“